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Nur am Morgen ein Hauch von spätrömischer Dekadenz


Am vergangenen Freitag, das Thema der Vorlesung war die Endphase der Sowjetunion, drifteten die Erzählungen unseres georgischen Professors immer weiter in die kleinen aber umso interessanteren Details der damaligen Zeit ab. So war Georgien, durch die Lage am Schwarzen Meer und dem Kaukasus-Gebirge, neben Moskau und St. Petersburg der Ort, den die meisten ausländischen Touristen besuchen durften. Neben Devisen brachte das für unseren Professor aber hauptsächlich den Vorteil in den Genuss von westlichen Kaugummis zu kommen, wie er uns erläuterte. So versuchte er immer hartnäckig die sowjetische Produktion – vier Geschmackssorten, ein Geschmack – gegen die Ausländischen einzutauschen. Denn nur mit Letzteren konnte man Blasen machen und damit den anderen Kindern imponieren.

Mittlerweile haben sich die Zeiten selbstverständlich geändert, so kann man natürlich in jedem Kiosk dutzende „westliche“ oder russische Sorten kaufen, bei den Babuschkas in den Unterführungen und am Straßenrand sogar einzelne Kaugummis. Soweit so gut. Doch mit der Zeit verzweifelt man weniger an der Kaugummiauswahl sondern an den alltäglichen Dingen die einem im so gewohnten Trott entgegenstehen. Dinge, die einen vorschnell an die Sowjetzeit erinnern lassen, obwohl man diese selbst nie erlebt hat: Stromausfall, kein Wasser aus dem Hahn und überfüllte Verkehrsmittel.

Klar wusste man schon irgendwie vorher, auf was man sich einlässt, man hätte sein Auslandsjahr auch bequem(er) in Barcelona, London oder Stockholm verbringen können. Doch sind es nicht gerade diese Dinge, die eine Erfahrung in einer Ex-Sowjetrepublik erst authentisch und vielleicht sogar sympathisch machen? Und irgendwie sind das auch die Stories, die man dann zu Hause erzählen kann. Doch letztendlich sind das alles Kleinigkeiten (immerhin haben wir W-LAN oder eine neue Waschmaschine in der Wohnung), mit etwas mehr Aufwand als zu Hause kann man hier den selben Luxus(!) haben. In den Supermärkten steht teilweise das selbe Zeug, Produkte von Gut&Billig, Bier sowieso, Käse, Wurst, Putzmittel und sogar das selbe Klopapier könnte man sich kaufen.

Macht man natürlich nicht, ein Einkauf auf dem Markt, das Feilschen mit den Händlern ist grade das, was das Leben anderswo ausmacht. Klappts auch mit den russischen Vokabeln nicht, dann benutzt eben der Händler sein Handy um seinen Wunschpreis mitzuteilen. Es tut gut mal die Bequemlichkeit abzulegen, obwohl einem das natürlich manchmal schwer fällt. Und für diese Stunden gibt’s dann den Späti vor der Haustür. Auch haben wir natürlich aus unseren Anfängerfehlern gelernt und sind nun wesentlich besser auf die Engpässe vorbereitet: Wir haben ein Not-Wasserreservoir mit Hilfe großer Flaschen angelegt (zum Glück gibt’s das Bier in 2,5l Flaschen…) und Kerzen für den Notfall gekauft. Und der Ipod (okay, wieder Luxus) in der Hosentasche macht auch die Wartezeit in der Kälte nach dem fünften vorbeifahrenden, weil hoffnungslos voll gestopften, Bus erträglicher. Langsam beginnt man sich mit den Unzugänglichkeiten zu arrangieren, diese zu akzeptieren. Oder man lernt einfach gelassener damit umzugehen und sich zu freuen, dass etwas funktioniert und nicht zu meckern falls es eben grade mal nicht hinhaut.

Eigentlich ist es ja auch ganz lustig, denn Filip, der Slowake, verzichtet nach wie vor darauf seinen Akku in seinen Laptop zu stecken (nur damit dieser seine volle Leistung nicht verliert). Und bei jedem Stromausfall schimpft er natürlich am meisten, die anderen können sich derweil amüsieren und in Ruhe ihre Rechner herunterfahren und die Kerzen entzünden. Die stromfreie Zeit kann dann endlich ohne Ablenkung für die Hausaufgaben genutzt werden. Und hey, immerhin hatten wir bisher noch keinen Gasausfall, was zu Essen konnten wir uns also immer machen.

Nur neulich dachten wir, dass das Gas abgestellt wäre. Doch nur die Batterien, die das Gas im Boiler für das Warmwasser entzünden, waren leer. Aber nachdem ich diese für ein paar Minuten auf einen der elektrischen Heizkörper legte, funktionierte die Anlage wieder wie gewohnt. Apropos Heizung. Zwar hat unsere Wohnung eine Zentralheizung, doch auf Nachfrage an unsere Vermieterin stellte sich heraus, dass diese bereits seit 1991 nicht mehr funktioniert. Zwar installierte man einen(!) gasbetriebenen Heizkörper in der Wohnung, doch dieser befindet sich im Flur und würde praktisch mehr draußen als drinnen heizen. Wir schmunzeln dadrüber und lassen die Elektroheizer nur noch im Wohnzimmer laufen – das hat auch den Vorteil, dass man bei knapp 10 Grad im Badezimmer schnell wieder draußen ist.

Das Essen bei uns in der „Familie“ kochen wir am Abend eigentlich immer zusammen, sodass wir seit Beginn unseres Zusammenlebens eine Gemeinschaftskasse führen. Ich erlaube mir die spätrömische Dekadenz, wie Sebastian aus Potsdam so schön sagt, und gönne mir mein allmorgendliches Müsli. Das billigste ist zwar immer noch mehr als doppelt so teuer wie im heimischen Edeka, doch irgendwie kann ich in diesem speziellen Fall nicht aus der gewohnten Bahn ausbrechen.

Und wie beende ich diesen Beitrag? Ganz einfach. Gestern Abend fing ich endlich an, meine Reiseliteratur zu lesen und zwar mit Boris Reitschusters Buch „Briefe aus einem untergehenden Imperium„. Dieses ergänzt nicht nur wunderbar meine Vorlesungen, teils mit amüsanten, teils mit zum Nachdenken anregenden Geschichten aus der Umsturzzeit der UdSSR. Auch die „westlichen“ Kaugummis spielen als Zahlungsmittel darin eine Rolle.

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