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5191 km Transsib

Etwa bei Kilometer 2900 passiert es, der Worst-Case tritt ein: eine der zwei Toiletten an Bord unseres Wagons mit der Nummer 8 fällt aus. Es ist zwar bereits der zweite von etwas mehr als drei Reisetagen, störend ist dies Problem dennoch. Bei fast 85 Stunden, so lange dauert die Fahrt von Irkutsk nach Moskau, kann solch eine Einschränkung schon nerven. Schlimmer wäre quasi nur noch der Ausfall des Samowars, der sich gegenüber der Schaffnerinnenkabine befindet (männliche Schaffner scheinen nicht zu exisitieren). Denn ohne den Wasserkocher wären sämtliche Fertiggerichte und die Teepausen zwangsläufig beendet.

Diese bilden quasi den Orientierungspunkt während der Fahrt. Der Kopf denkt nach Moskauer Zeit (diese gilt auch in den Waggons und im gesamten russischen Eisenbahnverkehr), der Körper hingegen befindet sich noch in sibirischer Zeitrechnung. Hinzu kommt, das es nicht sonderlich viel Abwechslung gibt: Ereignislos bewegen sich endlose Birkenwälder, schneebedeckte Felder oder vereinzelt Holzhäuser am Fenster vorbei. Letztere haben meistens hellblau oder grün angestrichene Fensterrahmen – den Farben der russisch-orthodoxen Kirche (blau für den Himmel und grün für die Erde). Man erhofft sich damit, dass Gott öfters durch diese nach dem Rechten im Inneren schauen würde.

Immer im Hinterkopf sollte man aber trotzdem immer die Halteorte und die Standzeiten an diesen behalten. Denn dann ist die Benutzung der Toiletten untersagt. So passiert mir kurz vor Tjumen’ der Fauxpas, dass der Zug bereits in den Bahnhof einrollt, ich aber bereits meine Zahnbürste putzend im Mund habe und dann die gut 20 Minuten mit schäumenden Mund ausharren muss.

Doch anders als man bei solch (für mitteleuropäische Verhältnis astronomisch) langen Fahrzeiten vermuten würde, geht die Fahrt recht flott voran. Vermutlich auch, weil man sich die Tage mit Zeitungs- (ein drei Wochen alter Spiegel wird zur äußerst interessanten Lektüre) und Buchlesen (man schafft viel weniger als man sich vorgenommen hat) vertreiben kann.

Aufgelockert wird die tägliche Routine ebenfalls durch die Entscheidung, welche Tütensuppe gewählt werden soll: eher scharf mit „Hühnchen“ oder mit „Pilzen“ – der Unterschied wird prinzipiell nur auf der Packungsbebilderung deutlich. Aber auch die stundenlangen Durak-Partien (einem russischen Kartenspiel), an dem sich auch zeitweise auch unser Mitfahrer Dima beteiligt, sorgen für Kurzweil.

Der Geschäftsmann fährt aber nur nach Kasan’, was aber auf den ersten Blick auf den Fahrplan gar nicht auf unser Strecke, die „Südroute“ liegen soll. Denn die Haltepunkte, welche hinter Jekaterinburg auf uns warten, helfen nicht unbedingt weiter. Hinzu kommt, dass wir dort auch nur wenige Minuten halten sollen: „Tschad“, „Kisner“, „Kanasch“, „Pil’na“ oder „Murom 1“.

Im Gegensatz zu Dima, der sich als netter Reiseabschnittspartner zeigt, störte da der Nowosibirsker Eishockey-Club, der in voller Mannschaftsstärke mit seinem Kinderteam von einem Auswärtsspiel irgendwo hinter Krasnojarsk mitten in der Nacht zugestiegen war, deutlich mehr. Bei den fortwährend gleichen Fragen nach deutschen Fußballvereinen und Eishockeyclubs der vielleicht 12-jährigen konnte ich noch relativ fundiert Auskunft geben, bei der Bewertung der Eishockey-Cracks der KHL (Kontinentale Hockey Liga, die sich mittlerweile über einige postsowjetische Länder aber auch über die Slowakei und Tschechien erstreckt) muss ich dann letztendlich passen.

Zum Glück hat deren Trainer, ein beständig mit Teetasse die herumturnende Bande im Auge behaltende, mutmaßliche ehemalige Sowjetgrößte auf dem Eis, ein Einsehen und schickte die gesamte Mannschaft schon frühzeitig ins Bett. Damit fällt die Konzentration wieder auf die digitalen Anzeigen an den Enden des Wagons: grünes Licht für die freie Toilette, rot für die geschlossene – oder eben defekte.

Neben der Zeit wird auch noch die Innentemperatur des Wagens angezeigt. Entgegen anders lautender Gerüchte über eine „rollende Banja“, bewegt sich bei uns die Temperatur konstant zwischen 21°C und 24°C. Damit halten sich die Gerüche aufgrund des tagelangen Ungeduschtseins zurück, der Schlaf ist fast himmlisch und die gesamte Zugbesatzung kann trotzdem getrost in Badeschlappen und Jogginghosen die wenigen Wege im Zug überbrücken.

Als dann in der letzten Nacht auch noch die Zugtoilette wieder repariert ist, kann die Fahrt eigentlich noch ein Stückchen länger dauern. Wenn unsere Essenreserven nicht bereits akut zu neige gegangen wären. Das „letzte“ Abendmahl besteht dann nämlich nur noch aus kaltem Dosenfleisch (eine Schenkung eines Mitfahrers) und altem, harten Brot. So freute sich die Reisegruppe doch, dass Bahnhof in Moskau nur noch einen Katzensprung entfernt ist – „wenige“ hunderte Kilometer, Entfernungen werden in der Transsibirischen Eisenbahn eben relativ.

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