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Georgiens „Wanderung“ von Asien nach Europa

Kutaissi - Georgisches Parlament
Das georgische Parlament in Kutaissi (welches sich hier Mitte Juni 2012 noch im Bau befand).

„Die Stadt macht einen eigentümlichen Eindruck. Von der Seite, wo man herein fährt, ist es eine ganz europäische Stadt. Dieser Stadtteil ist von den Russen angelegt. […] Aber am Ende dieser europäischen Stadt beginnt nun eine vollkommen asiatische […]. Nirgends treten sich die Gegensätze und Vermittelungen von Europa und Asien so nahe gegenüber, als in Tiflis!“

Dieses Zitat stammt aus den Reisenotizen August Freiherr von Haxthausens, der 1843 die heutige georgische Hauptstadt besuchte. Schon immer lag diese Region an der „Kreuzung am Weg der Völker“ – Tbilissi (Tiflis) war und ist dessen Abbild im Kleinen. Nach der gängigsten geografischen Einteilung liegt Georgien zwar in Asien, doch spätestens seitdem das südkaukasische Land durch den Zerfall der Sowjetunion die Unabhängigkeit erlangte, wurde die Wahrnehmung „europäischer“ als je zuvor. Aufgrund dessen wird Georgien am häufigsten als „situated at the junction of Europe and Asia“ (Nodar Asatiani und Otar Janelidse), als „zwischen Europa und Asien“ (Naira Gelaschwili und David M. Lang) liegend oder schlicht als „ein Land in Eurasien“ (Kacha Schengelia) bezeichnet. Der folgende Beitrag zeigt jedoch, dass Georgien im Laufe seiner Geschichte unterschiedlich verortet wurde. Und letztendlich wird auch deutlich, dass Georgien und „Europa“ näher rückten – ohne das die Bezüge zu „Asien“ gänzlich abgelegt wurden.

Der Europa-Platz in der Schwarzmeerstadt Batumi illustriert diesen Wandel, aber auch die geschichtlichen Verbindungen und den Versuch einer offiziellen Manifestation einer Verortung: Die Namensgebung des ehemaligen Era-Platzes erfolgte 1999 nach dem Beitritt Adschariens – mit der Hauptstadt Batumi – zur Versammlung Europäischer Regionen. Auf diesem zentralen Platz in der drittgrößten Stadt des Landes befindet sich seit 2007 eine Statue der griechischen Mythenfigur Medea. Mit der rechten Hand hält sie das goldene Vlies in die Höhe. Dieses kostbare Widderfell raubten der Sage nach die griechischen Argonauten mit Hilfe Medeas vom König von Kolchis, einem Königreich im heutigen Westgeorgien. Folgt man der offiziellen Darstellung zur Medea-Statue, dann soll diese an die antiken Verbindungen Georgiens mit der europäischen Welt erinnern.

Zugleich jedoch bestand seit der Frühgeschichte eine enge Verzahnung mit Asien, wie es der Kaukasiologe Heinz Fähnrich in seiner umfassenden Geschichte Georgiens beschreibt: „Die geografische Nähe zu den ältesten Hochkulturen der Menschheit in Kleinasien und Mesopotamien und ständige Kontakte zu den südlichen Nachbarn banden die Bewohner Georgiens schon früh in die allgemeine wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung dieses Raumes ein.“ Aus geografischer Sicht, mit dem Kaukasus-Gebirge als Trennlinie zwischen den beiden Kontinenten, liegt das südkaukasische Land zum allergrößten Teil ebenfalls auf der asiatischen Seite. Doch archäologische Funde bestätigen die bereits erwähnte Verbundenheit Kolchis mit der antiken Welt der Griechen aber auch der Römer. Zugleich zeigte sich das damals hohe kulturelle Niveau des ungefähr im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegründeten Staates. Diese Faktoren sowie äußere Bedrohungen begünstigten den zunehmenden Zusammenschluss altgeorgischer Stämme. So entstand im 6. Jahrhundert v. Chr. im Osten des heutigen Georgiens ein weiterer Staat: Iberien.

Sowohl Iberien als auch Kolchis konnten sich durch die Annahme des Christentums im Jahr 337 n. Chr. und die Schaffung eines eigenen Alphabets konsolidieren und weitere georgische Stämme in ihre Strukturen integrieren. David Paitschadse zufolge versuchten beide Staaten durch die Anerkennung des Christentums „[…] sich vom Orient zu distanzieren und Eintritt in den europäischen Kulturkreis zu finden.“ Heinz Fähnrich bestätigt für den iberischen Staat, dass sich dort bereits mit dem Feldzug Gnaeus Pompeius im Jahr 65 v. Chr. allmählich eine „stärker werdende Ausrichtung des Blickfelds nach dem Westen, nach Europa“ abzeichnete. Damit wurde Georgien zu einer „Bastion des Christentums“ (David M. Lang) im stetigen Konflikt mit den benachbarten Imperien der Sassaniden und Byzantiner.

Im „goldenen Zeitalter“ zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert vereinigten sich die georgischen Königreiche und erlangten ihre Unabhängigkeit vom byzantinischen Reich. Dank David dem Erbauer und Königin Tamar wurde das Land zur stärksten Macht in der Region, es erlangte die größte Ausdehnung, der Handel und die Wirtschaft prosperierten. Diese Zeit wurde jäh von der Mongoleninvasion im Jahr 1225 beendet, der Georgien nicht gewachsen war. Es zerfiel in etliche kleine Königreiche und Fürstentümer, welche zu Vasallenstaaten verkamen. Ende des 13. Jahrhunderts wurde das Land schließlich von Tamerlan erobert. Damit geriet es für etliche Jahrhunderte ins persische Einflussgebiet und wurde damit gewissermaßen ein Teil Asiens. Um Persiens Domäne zu entkommen, wurde 1783 ein Schutzvertrag mit dem Russischen Kaiserreich abgeschlossen, wobei man sich die Hilfe des ebenfalls christlich-orthodoxen Imperiums versprach. Jedoch wurden sukzessive die georgischen Regionen annektiert und nach teils langen und blutigen Kämpfen bis 1864 endgültig zu russischen Protektoraten.

Die Berge als Metapher der überwundenen Teilung (aus russischer Sicht) erscheinen besonders drastisch in den Aufzeichnungen des britischen Malers Robert Ker Porter, der den Kaukasus im Jahr 1817 durchreiste: Das Gebirge sei ein „nature’s bulwark between confidence and insecurity, between civilization and barbarism, between the nations of Europe and of Asia.“ Diese Narrative verarbeitete Aleksandr Puškin literarisch in seinem 1822 veröffentlichten Gedicht Der Gefangene im Kaukasus. Das Gedicht enthält alle Elemente der europäischen Romantik, wie die Suche nach dem Abenteuer des christlichen Helden, der sprichwörtlich gefangen wird von der „Exotik der Asiaten“. Allerdings hat das Werk auch einen subtilen Unterton. So ist speziell der von Puškin verwendete Freiheitsbegriff äußerst mehrdeutig: Die unterschwellige Kritik an der Expansion des russischen Reiches als zivilisatorische Mission eines europäischen Imperiums zur damaligen Zeit wurde nur zu gut von den Menschen sowohl im Russischen Kaiserreich als auch im Kaukasus verstanden. Denn gegen die anderen „unterjochten Völker“ des Imperiums, wie in Polen, der Ukraine oder im Baltikum, ist die „russische Besatzungsmacht“ milder vorgegangen, „weil diese Europa näher standen“, erklärt Heinz Fähnrich: „Unter dem Vorwand, die ‚asiatische Zurückgebliebenheit‘ der Georgier beheben zu wollen, hemmten die Russen die Entwicklung des georgischen Volkes mit seiner alten Hochkultur durch nackte Gewalt.“ Zwar sicherte das russischen Zarenreich das „nationale Überleben“ (David M. Lang) Georgiens, dennoch hielt sich im Land aus oben genannten Gründen eine nationalistische und anti-zaristische Haltung – insbesondere als Gegenwehr zur vorangetrieben Russifikation.

So ergriff Georgien die günstige Gelegenheit, um sich kurz nach der Oktoberrevolution als Demokratische Republik für unabhängig zu erklären. Spätestens in dieser nur kurz währenden Zeit der Selbstständigkeit rückte das kleine Land in den Fokus („westlicher“) europäischer Mächte. So stand es erst unter dem Schutz Deutschlands, nach dessen Kapitulation im Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien diese Rolle. Aber auch umgekehrt hatte (zumindest die Regierung in) Georgien eindeutige Ambitionen, wie aus den Worten des Außenministers Evgeni Gegečkori im Jahr 1919 deutlich wird: „We have always been on the threshold of Europe, and now we want to be Europeans.“ Doch schon 1921, nach drei Jahren Unabhängigkeit, wurde das südkaukasische Land von der Roten Armee besetzt und in die neu gegründete Sowjetunion eingegliedert. Quasi zwangsweise wurde das Land dann als Georgische Sozialistische Sowjetrepublik ein Teil Europas. So ist der Encyclopædia Britannica aus dem Jahr 1975 zu entnehmen, dass die georgische Teilrepublik in der „southernmost region of the European Section of the Soviet Union“ liegen würde.

Die angesprochene Abneigung gegen die (sowjet-)russische Fremdherrschaft brach in der Zeit von Glasnost’ und Perestrojka endgültig auf. Als „Geburtsstunde“ der georgischen Nationalbewegung und zugleich endgültiger Verlust der Legitimität der sowjetischen Autoritäten kann der 9. April 1989 gesehen werden. An diesem Tag wurde die georgische Oppositions-bewegung brutal niedergeschlagen. Genau zwei Jahre später, am 9. April 1991, verkündete Georgien als zweite Teilrepublik nach Litauen die Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

Seitdem ist die (Außen-)Politik Georgiens auf eine Loslösung von Russland und parallele Annäherung an „westliche“ Strukturen ausgerichtet. Vor allem seit der „Rosenrevolution“ im Jahr 2003 und den daran anschließenden zwei Präsidentschaften Mixeil Saakašvilis ist das Ziel die Integration in europäische Strukturen. Der Politikwissenschaftler Rainer Freitag-Wirminghaus argumentiert sogar folgendermaßen: „Da Georgien dem Europarat bereits seit April 1999 angehörte, kann man dieses Datum als Beginn der verbürgten Zugehörigkeit […] zu Europa betrachten.“ Darüber hinaus ist Georgien seit 2004 Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik und gehört seit 2009 zur Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union. Diese Zusammenarbeit fand mit dem am 27. Juni 2014 unterschriebenen EU-Assoziierungsabkommen seinen vorläufigen Höhepunkt. Diese Annäherung an Europa wird auch von der Bevölkerungsmehrheit getragen. Laut einer Umfrage des US-amerikanischen National Democratic Institute vom April 2014 unterstützten 77% der Befragten den Regierungskurs für eine EU-Integration, nur 11% nicht. Auch in den Jahren zuvor gab es immer eine klare Mehrheit für dieses Vorhaben.

Der im Oktober 2013 neu gewählte Präsident Giorgi Margvelašvili betonte darüber hinaus in seiner Amtseinführungsrede, dass Georgien die historische Mission habe, zum „Zentrum für Kooperation, Dialog und Eintracht zwischen Europa und Asien“ zu werden. Auch James Forsyth verbindet Georgien mit Asien und Europa, „so far as these two great cultural realms can be demarcated geographically“. Als Vermeidung der bisherigen dichotomen Lokalisierung wird seit einiger Zeit auf „den Kaukasus“ oder „Kaukasien“ zurückgegriffen. Glaubt man Heinz Fähnrich, so sei Georgien „ein Teil Kaukasiens, jenes Gebiets an der Grenze von Europa und Asien.“ Das sei ein kulturgeografischer Raum, schreibt der Geograf Jörg Stadelbauer. Dieser Begriff wird auch von Charles King in seinem Buch The Ghost of Freedom. The History of the Caucasus verwendet: „It is about the place of a mountainous land at the confluence of Asia and Europe in the imaginary geography of both East and West, and how such tenaciously ambiguous labels as ‚empire‘ and ‚nation‘ have been transformed over the last two centuries.“ Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach gehen einen Schritt weiter. Denn sie glauben, dass zwischen den beiden Antithesen „Asien“ und „Europa“ die „real-existierende Synthese“ des „Kaukasus“ liegen würde. Auch das impliziert die Brückenfunktion Georgiens.

Es wird deutlich, dass die Verortung Georgiens alles andere als eindeutig ist. Jedoch ist auffällig, dass die Zuschreibung zu „Asien“ oder „Europa“ in den meisten Fällen von Außen geschieht: Sei es durch die Zugehörigkeit zu bestimmten „asiatischen“ Königreichen wie den Persern oder dem „europäischen“ Zarenreich und der späteren Sowjetunion. Die georgische Bevölkerung selbst würde sich in den meisten Fällen und seit Jahrhunderten wohl eher als „europäisch“ denn als „asiatisch“ sehen. Neben dem gemeinsamen Bezugspunkt des Christentums, zählt dazu seit den letzten beiden Dekaden die außenpolitische Entwicklung und der Drang, sich in europäische Strukturen zu integrieren. Wie die neueste Entwicklung mit Blick auf die Ukraine zeigt, besteht vor allem die Angst fort, abermals unter eine nicht gewünschte Fremdherrschaft zu fallen. Wird doch die Russländische Föderation, die aus georgischer Sichtweise bereits Teile des Landes (Abchasien und Süd-Ossetien) okkupiert hat, als die Macht wahrgenommen, die einerseits der Europäisierung Georgiens entgegenarbeitet und andererseits innen- und außenpolitisch ein „EU-Europa“ entgegengesetztes Bild propagiert.

Dass jedoch die Wahrnehmung Europas auch in Georgien noch ambivalent ist, zeigt sich an einer zweiten Illustration: dem gleichnamigen Kasino in der Innenstadt von Tbilissi. Die Fassade des Hauses ist passenderweise mit einer riesigen Europakarte geschmückt – die aber genau dort endet, wo Georgien liegen würde. Es bleibt also dabei, dass Tbilissi sowie Georgien im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu Europa oder Asien voller Gegensätze ist.

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