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Minderheiten in Transsilvanien

Dreisprachige Warnung vor dem Hunde in Dumbrăveni: Rumänisch, Deutsch und Ungarisch.

„Ich verstehe mich als ungarischer Jude aus Rumänien mit ungarischer Kultur“, sagt der Leiter der jüdischen Gemeinde in Cluj-Napoca (deutsch: Klausenburg), Robert Schwartz. „Ich wurde ungarisch sozialisiert, Ungarisch ist meine Muttersprache. Meine Ethnizität ist Jüdisch, ich bin aber nicht gläubig.“ Viele Menschen in Transsilvanien hätten eine komplexe Identität, sagt Schwartz, diese sei fließend und schwer zu fassen.

Schwartz‘ Selbstbezeichnung verwundert noch ein wenig beim ersten Hören. Allerdings stellt sich nach Gesprächen mit anderen Minderheitenvertretern schnell heraus, dass solch fluide Identitäten eher Normalität denn Einzelfälle sind. Der Gebrauch der einen oder anderen Sprache, wie die Wahl zwischen Rumänisch oder Ungarisch bei der Unterhaltung mit Schwartz, ist meistens reinem Pragmatismus geschuldet. Die Sprache, in der sich die Menschen in Transsilvanien beim ersten Treffen unterhalten, wird bei folgenden Konversationen einfach beibehalten.
Cluj-Napoca

Robert Schwartz, Leiter der jüdischen Gemeinde in Cluj-Napoca, in der Neologen Synagoge.

Multiethnische Provinz seit 1000 Jahren

Jene Vielschichtigkeit Transsilvaniens ist geschichtlich bedingt: „Es ist eine Provinz, die in den letzten 1000 Jahren immer multiethnisch war“, erklärt der Geschichtsprofessor Rudolf Gräf. Die zentral im heutigen Rumänien gelegene Region – die auf deutsch Siebenbürgen und auf ungarisch Erdély genannt wird – war jahrhundertelang bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (und noch einmal kurzzeitig von 1940 bis 1944) eng mit Ungarn verbunden. Gräf, der auch Vizerektor der Clujer Babeș-Bolyai-Universität ist, hebt zwar die Vorreiterrolle des ungarischen Adels hervor, jedoch prägten auch andere Gruppen Transsilvanien.

Deutschsprachige Gruppen siedelten sich dort im 12. Jahrhundert an, Roma wanderten im 14. und Armenier im 17. Jahrhundert ein. Archäologische Funde weisen auf die Anwesenheit einiger Juden bereits zur Zeit des Römischen Reiches hin. Letztendlich dominierten aber vor allem Ungarn und Deutsche in den transsilvanischen Städten – mehrsprachige Ortseingangsschilder zeugen auch heute noch davon. „Letztendlich musste die unterschiedliche Bevölkerung auf diesem einen Territorium auskommen“, so Gräf. Ihm zufolge hätten die Rumänen bis Ende des 18. Jahrhunderts in Transsilvanien „keinen Platz gehabt“.

Erst unter der Habsburger-Herrschaft seien diese integriert worden. Nach dem zweiten Weltkrieg und explizit unter Nicolae Ceaușescu wurde versucht die Region staatlicherseits zunehmend zu rumänisieren. Einige Politiker halten nach wie vor an einem rumänisch-nationalistischen Kurs fest, Konflikte mit den lokalen Minoritäten sind die Folge. So versuchte der ehemalige nationalistische Bürgermeister von Cluj-Napoca, der von 1992 bis 2004 regierende Gheorghe Funar, der multiethnischen Stadt mit mehr als 17 Prozent Ungarn seine Denkweise aufzudrücken: Er ließ Bänke, Mülleimer und Laternenmasten in den Farben der rumänischen Nationalflagge (rot, gelb, blau) anstreichen, selbst die Weihnachtsbeleuchtung strahlte in den Farben der Trikolore.
Cluj-Napoca

Reiterdenkmal von Mihai Viteazul (Michael der Tapfere) auf dem gleichnamigen Platz in Cluj-Napica. Er ist einer der rumänischen Nationalhelden, da er im Jahr 1600 das erste Mal die drei rumänischen Fürstentümer (Walachei, Transsilvanien und Moldova) vereinigte.

Doch wie sieht die aktuelle Situation der Minderheiten in Rumänien aus? Und wie groß sind die ethnischen Minoritäten? Grundsätzlich sind die Ergebnisse von numerischen Erfassungen, insbesondere von so genannten Mischidentitäten, wie der erwähnten Juden, aber auch der Roma oder Armenier, problematisch und angreifbar. Dennoch bietet der aktuellste rumänische Zensus aus dem Jahr 2011 eine Orientierung zur Größenordnung der verschiedenen Minderheiten. Laut der Erhebung zählten sich rund 1,24 Millionen Menschen zu den Ungarn (6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Rumäniens), 620.000 zu den Roma (3,3 Prozent), 37.000 zu Deutschen (0,2 Prozent), 3.200 zu Juden (0,02 Prozent) und etwa 2.000 Menschen (0,01 Prozent) schrieben sich den Armeniern zu.

Neben diesen Zahlen verdeutlichen aber vor allem (Bau-)Denkmäler oder Straßennamen dieses größtenteils friedliche Gemengelage, wie man es bis heute in Transsilvanien vorfindet. So auch in der ersten Station der Reise, in Cluj-Napoca. Dort befindet sich mit der Babeș-Bolyai-Universität nicht nur die einzige dreisprachige Hochschule im südöstlichen Europa, auch in den verwinkelten Altstadtgassen, Läden oder Cafés der zweitgrößten rumänischen Stadt verbreitet sich ein pluralistisches Flair. An Eingangstüren wird mit der Mehrsprachigkeit geworben – insbesondere mit dem Ungarischen.

Ungarn in Transsilvanien – „Die größte ethnische Minderheit in Europa“

Das dürfte Péter Eckstein-Kovács gefallen. Er ist Generalsekretär der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (RMDSz) und gibt sich im großen Presseraum der Parteizentrale in Cluj-Napoca eloquent und selbstbewusst: „Wir sind die größte ethnische Minderheit in Europa. Wir haben zwar die rumänische Staatsbürgerschaft, aber unsere Kultur und unsere Traditionen sind ungarisch.“ Die RMDSz bezeichnet sich selbst als „rechte Partei“ und sieht sich als politische Stellvertretung der in Rumänien lebenden Ungarn – rechtlich gesehen ist sie aber ein Minderheitenverband. Eckstein-Kovács fordert für die Ungarn mehr Rechte und Entscheidungsgewalt, vor allem die lokalen und regionalen Räte will er stärken – letztendlich soll nur die Außenpolitik in Bukarest verbleiben.

Zugleich bekräftigt der 58-Jährige aber, dass „wir keinen anderen Staat oder eine Lücke in Rumänien schaffen wollen.“ Ihm zufolge besitzen 400.000 Ungarn in Rumänien die doppelte Staatsbürgerschaft: Der RMDSz-Politiker bezeichnet diesen Status als „große Hilfe, um zu zeigen, dass wir zur selben Nation gehören, da die ungarische Nation weit größer ist, als jetzt.“ Eine direkte Einmischung Ungarns in die Politik des Nachbarlandes lehnt er aber ab, die zahlreichen Besuche ungarischer Politiker in Transsilvanien findet Eckstein-Kovács kontraproduktiv.
Cluj-Napoca

Péter Eckstein-Kovács von der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien im Presseraum der Partei.

Der starke Einfluss der ungarischen Regierung auf die Minderheit in Rumänien ist unbestritten, wie Zsuzsa Plainer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Erforschung Nationaler Minderheiten (ISPMN) in Cluj-Napoca, hervorhebt. Neben der Verteilung von Pässen an die so genannten Auslandsungarn, sodass diese an ungarischen Wahlen teilnehmen können, organisieren ungarische Politiker seit Jahren Wahlveranstaltungen, Demonstrationen oder Camps in Transsilvanien.

Dass die ungarische Minderheit sehr entscheidend für die Politik Ungarns sein kann, zeigte sich bei der jüngsten Parlamentswahl im April 2014: Die Stimmen der Auslandsungarn brachte die alte und neue national-konservative Regierungspartei Fidesz genau die Zweidrittelmehrheit bei der Sitzverteilung. Insgesamt ist „das Angeln nach Stimmen geopolitisch zu sehen“, resümiert Plainer.

Was sie nur am Rand erwähnt, ist die sehr enge Beziehung zwischen ihrem Institut und der RMDSz – so initiierte im Jahr 2007 ein Politiker des Ungarnverbands die Gründung des ISPMN. Trotzdem kann das Institut weitestgehend unabhängig agieren, es ist eine offizielle Institution der rumänischen Regierung. Letztendlich ist die Hauptaufgabe des ISPMN „Material zu produzieren, um politische Entscheidungen zu beeinflussen“, erklärt Plainer.

Die Gettoisierung der Roma schreitet voran

Als Koordinatorin für Roma-Projekte bekommt sie ebenfalls einen Einblick in diese größtenteils marginalisierte Minderheit und ist resigniert. Denn aus ihrer Sicht gibt es „keine sichtbaren Auswirkungen“ der bisher durchgeführten Maßnahmen. Zwar wolle Rumänien der EU beweisen, dass es engagiert bezüglich der Roma ist, doch die Gettoisierung der Roma schreite voran. „Es gibt keine Wohnbau-Projekte, keine langfristigen Arbeitsplätze und Projekte für die Roma, zudem ist das Wohlfahrtssystem schlecht“, fasst die Wissenschaftlerin das Dilemma zusammen. Damit bleiben die Roma aus ihrer Sicht vorerst eng mit Armut und gesellschaftlicher Ungleichheit verbunden.

Auf politischer Ebene ist dies auch auf den fehlenden Dachverband und die starke organisatorische Zersplitterung zurückzuführen, auf gesellschaftlicher Ebene auf die strukturelle Diskriminierung. Plainer zufolge sind vor allem Roma – und Juden – Rassismus und Stereotypisierung ausgesetzt. Sie glaubt nicht, dass Rumänien ein tolerantes Land ist. Viel Hilfe laufe im Enddefekt nur über persönliche Beziehungen, gegenseitiges Vertrauen sei wichtig, erklärt Elena Mutiu. Sie arbeitet für das Ressourcenzentrum für die Gemeinschaften der Roma in Sibiu (Hermannstadt) und versucht vor allem die Ärmsten und Kinder zu unterstützen. Die 28-Jährige sieht sich als selbstbewusste Roma und möchte für andere als Vorbild dienen. Mutiu zufolge ist die Mehrheit der Roma in Rumänien zwar assimiliert, doch „für die traditionell lebenden wird man keine Lösung finden – man muss sie schlicht akzeptieren.“

Angesprochen auf die Toleranz gegenüber den Juden antwortet der Leiter der Clujer Gemeinde Schwartz, dass zwar der Antisemitismus bei weitem nicht das Niveau Ungarns erreiche. Allerdings gibt es auch in Rumänien einen „unterschwelligen, latenten Antisemitismus“. Von den ehemals fünf Synagogen sind noch vier in der Universitätsstadt erhalten – wobei nur noch eine in ihrer Ursprungsbestimmung fungiert. In der Gemeindeverwaltung berichtet Schwartz, dass es bis in die 1940er Jahre über 17.000 Juden in Cluj-Napoca gab, ein Fünftel der damaligen Einwohnerschaft. Fast alle jüdischen Bürger wurden während des zweiten Weltkriegs deportiert, „nur wenige sind zurückgekehrt“, bemerkt Schwartz.

Heute umfasst die Gemeinde nur noch wenig mehr als 400 Personen – „wobei davon nicht alle Juden sind“, so Schwartz. Ihm zufolge war das Judentum in Transsilvanien eng mit dem Ungarischen und dessen Kultur verwoben, es gab aber auch rumänischsprachige Juden, die sich als Rumänen verstanden.
Dumbrăveni

Die armenisch-katholische Dreifaltigkeitskirche in Dumbrăveni.

Die letzten 24 Armenier von Dumbrăveni

Um einen Einblick in die heutige Situation anderer Minderheiten zu bekommen, führt die Reise weiter gen Osten. Die Marschrutka hält auf dem großen belebten Platz im Zentrum von Dumbrăveni (Elisabethstadt). Im Schatten der Bäume unterhalten sich in der Mittagshitze die Älteren, Kinder toben herum, auf dem Bordstein der Straße sitzend verkaufen Frauen Blumen. Zusammen mit Gherla (Armenierstadt) gehörte Dumbrăveni zu den bedeutendsten armenischen Städten in Transsilvanien. Beide Städte fungierten als überregionale Drehscheibe für den Handel, dem Haupterwerbszweig der transsilvanischen Armenier. Dadurch erhielten sie vom ungarischen Adel den Rang einer freien Königsstadt.

Außer der großen, fast überdimensioniert wirkenden, Dreifaltigkeitskirche am Hauptplatz und einigen erhaltenen armenischen Beschriftungen, wie an der ehemaligen armenischen Schule, sind aber mittlerweile die Armenier vor Ort nicht mehr wahrnehmbar – auch in anderen Landesteilen sieht die Situation ähnlich aus. „Nur noch 24 Armenier leben in Dumbrăveni“, erzählt der Leiter des örtlichen Armenischen Vereins, Ioan Călinescu. Aber keiner spreche noch armenisch. Das liegt hauptsächlich daran, dass spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts alle Armenier in Transsilvanien assimiliert waren, größtenteils ins Ungarische, schon zuvor waren sie in die armenisch-katholische Kirche gewechselt.

Im Gegensatz dazu konnte sich die deutsche Minderheit gegen jegliche Assimilierungsversuche wehren, wenn ihre Zahl auch drastisch gesunken ist und auch die Sprecher des siebenbürgisch-sächsischen Dialekts immer weniger werden. Vor dem zweiten Weltkrieg lebten noch etwa 800.000 Deutsche in Rumänien, nach mehreren Auswanderungswellen – insbesondere Anfang der 1990er Jahre – schrumpfte ihre Zahl auf weniger als 40.000.

„Zu meiner Schulzeit gab es nur zwei oder drei Schüler in der Klasse, die in ihrer Familie nicht deutsch sprachen – nun ist das Verhältnis umgekehrt“, erinnert sich der Direktor des deutschsprachigen Gymnasiums in Sibiu, Gerold Hermann. Etwa 850 Schüler gehen auf seine Schule, die allermeisten davon sind nun Rumänen, die bereits im Kindergarten anfangen deutsch zu lernen. „Die Vorteile sind bei den Eltern natürlich bekannt und evident“, erläutert Hermann: „Wir haben keine arbeitslosen Absolventen“, die zahlreichen deutschen Unternehmen in Transsilvanien und insbesondere in Sibiu suchen händeringend nach Fachkräften.

Der Minderheitenverband der Deutschen: „Weder Tennisclub noch Folkloreverein“

Dieser Zustand ist vor allem dem seit 2000 regierenden Bürgermeister Klaus Johannis zuzuschreiben, der mit seinem Wahlkampf gegen Korruption und über positiv besetzte deutsche Stereotype erst die Wähler und letztendlich auch westliche Investoren überzeugen konnte.

So kommt es, dass das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) fast zwei Drittel der Abgeordneten im Sibiuer Stadtrat bestellt – bei nur 2.000 Deutschen unter etwa 150.000 Einwohnern. Doch über die transsilvanische Stadt hinaus könne man in der Politik aufgrund der wenigen im Land verbliebenen Deutschen „nur noch eine Katalysatorfunktion einnehmen“, bemerkt DFDR-Vorsitzender Jürgen Porr. Er gründete das Forum im Jahr 1990 mit und führt es seit 2013 an. Er sieht das Forum nicht als Partei wie die vergleichbare RMDSz, „wir sind aber auch kein Tennisclub oder Folkloreverein.“ Man sei ein politisch aktiver Minderheitenverband.
Sibiu

Blick auf den Kleinen Ring in Sibiu. Der Ort war zusammen mit Luxemburg Europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2007.

Ein Novum ist trotzdem, dass bei der rumänischen Präsidentschaftswahl im November 2014 mit Johannis erstmals ein Angehöriger einer Minderheit um das Amt des Staatsoberhaupts antritt, noch im Jahr 2009 wurde der 55-Jährige bei der Wahl zum rumänischen Ministerpräsidenten übergangen.

Allerdings ist der Sibiuer Bürgermeister nicht Kandidat des DFDR – wo er weiterhin Mitglied ist – sondern der Christlich-Liberalen Allianz, einem neuen Wahlbündnis der National-Liberalen und der Demokratisch-Liberalen Partei. Doch letztendlich verdeutlicht seine Ernennung auch die Möglichkeiten, die für die Angehörigen der insgesamt 18 anerkannten Minderheiten – so viele wie in keinem anderen Land der Europäischen Union – zumindest theoretisch bestehen. Diese können sich laut rumänischer Verfassung auf weitreichenden Schutz und Rechte berufen. Darüber hinaus besitzen sie durch den Rat der Nationalen Minderheiten 15 Sitze im Parlament. Diese automatische Vertretung der Minderheiten bei der Gesetzgebung ist „ein Modell für Europa“, glaubt Porr.
Sibiu

Gasse in der Sibiuer Altstadt.

Dieser Beitrag erschien in einer bearbeiteten Version in Ausgabe 2/2014 der wissenschaftlichen Zeitschrift „Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas“.

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