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Interview mit dem gagausischen Regierungschef Michail Formuzal

Im folgenden sind die interessantesten Passagen eines Gesprächs mit Michail Formuzal veröffentlicht (die vollständige siebenseitige Transkription kann hier oder hier [von der Seite der Uni Regensburg] heruntergeladen werden), das von Studierenden der Uni Regensburg und der LMU München während einer Exkursion geführt wurde. Die Fragerunde fand am 29. Mai 2014 im Regierungsgebäude in der gagausischen Hauptstadt Comrat statt. Formuzal ist seit 2006 Regierungschef („Başkan“) des autonomen Gebietes Gagausien.

Am 2. Februar gab es hier ein Referendum, wo sich 98% der Gagausen für die Zollunion mit Russland ausgesprochen haben, aber nun wird ja Moldova Ende Juni das Assoziierungs-abkommen mit der EU unterzeichnen (welches mittlerweile auch unterschrieben wurde). Das widerspricht sich ja, wie wird es weitergehen in Gagausien?
Ich denke sie verstehen, dass die Tatsache, dass die Gagausen so abgestimmt haben, nicht als etwas Vorsintflutliches bewertet werden soll – dass die Menschen hier erst von den Bäumen gekommen seien und die Bananen noch mit Schalen äßen. 86% der gagausischen Kinder schließen am Ende Bildungseinrichtungen im Ausland ab, sei es in Deutschland, Polen, Bulgarien, Rumänien, der Türkei, Griechenland oder in Russland. Und wenn wir für die Zollunion mit Russland stimmen, dann stimmen wir damit für unsere eigenen ökonomischen Interessen. In diesem Jahr werden wir [die Republik Moldova] 5.000 Tonnen Weintrauben ernten. Wir haben hier gute, europäische Sorten angebaut, diese kosten 40 Cent pro Kilogramm. Aber dennoch sind wir nicht in der Lage mit entsprechenden Produzenten aus Italien, Frankreich oder Spanien zu konkurrieren. Unsere Warenproduktion geht in die Russische Föderation. Die Europäische Union sagt: „Bitte ihr könnt jetzt an uns liefern und der Markt ist offen für euch.“ Aber wir sind dazu nicht in der Lage. Im letzten Jahr hat Moldova 178 Tonnen Äpfel an die EU geliefert, Russland hat aber 150.000 Tonnen Äpfel abgenommen. Bei uns gibt es viele Äpfel aus Polen. Wir können mit den polnischen Bauern nicht konkurrieren, weil diese Subventionen von der EU bekommen. Die EU kann den Apfelanbau mit 500 Euro pro Hektar unterstützen – und Moldova kann das nicht. Wenn ihre Eltern in der Lage sind, für ihre Gasrechnung 250 Euro im Monat zu bezahlen, dann ist das für die hiesige Bevölkerung – wo die Pension 60 Dollar im Monat beträgt – vollkommen utopisch. Wenn ich nun als Politiker die Wahl habe, ob ich meiner Bevölkerung anbiete, wie heute für 470 Euro im Monat Gas zu beziehen oder Gas über die Zollunion zu beziehen, wo es für 180 Euro pro Monat zu haben ist, dann werde ich natürlich das zweite tun. Denn das ist verantwortungsvolles Handeln. So würde jeder Politiker handeln, der an seinen Staat und dessen Bevölkerung denkt.

Michail Formuzal
Michail Formuzal

Ein Zitat, was während der gesamten Reise [durch Rumänien und Moldova] am meisten in Erinnerung blieb, lautet folgendermaßen: „Europa [die EU] ist gut für den Geldbeutel, aber nicht gut für die Seele.“ Wie stehen Sie zu diesem Zitat?
Ein Teil davon stimmt, aber es ist ein schwieriges Thema. Bevor ich zu ihnen kam, saß ich in meinem Büro und habe mich über dieses Thema unterhalten: Wir haben unsere Traditionen und christliche Werte und wir wollen sie nicht verlieren. Ich möchte keine Bewertung abgeben, darüber, was die EU und Westeuropa tut. Aber wenn mein 10-jähriger Sohn im Fernsehen eine Frau mit Bart [Conchita Wurst] sieht, dann weiß ich nicht, wie ich ihm das erklären soll. Das was uns am meisten erschreckt, ist diese aggressive Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen. Das ist das, was wir nicht von Europa haben wollen. Wir sind zufrieden, wenn wir von Europa den Kampf gegen die Korruption, gute Straßen, ein gutes Gerichtswesen oder Pressefreiheit übernehmen. Diese Werte setzen wir hier in unserem autonomen Gebiet auch ziemlich effektiv durch. […]

Wie stehen Sie zu den Plänen der Vereinigung mit Rumänien, insbesondere zur Behauptung „Ein Land – eine Identität“?
Äußerst negativ. Für den Fall, dass sich Moldova mit Rumänien vereinigen möchte, hat Gagausien bereits am 2. Februar [durch das Referendum] seine Unabhängigkeit erklärt. Sie werden in Gagausien keinen Bewohner finden der öffentlich erklären wird: „Wir wollen mit Rumänien sein.“ Wir wollen, dass Moldova ein unabhängiger Staat bleibt, der neutral ist: Eine Schweiz von Zentraleuropa. Wir brauchen hier überhaupt keine politischen Blöcke. Was wir brauchen ist wirtschaftliche Integration und der Erhalt unserer Souveränität, wobei die Zollunion [mit Russland] ein Projekt für die nächsten zehn Jahre ist. Innerhalb dieser 10 Jahre werden wir es schaffen unsere ganze verarbeitende Industrie auf den neuesten Stand zu bringen, insbesondere die Wein- und Obstproduktion. Wir haben eine positive Handelsbilanz – auch mit der EU.

Wenn man weiterhin an den traditionellen Werten festhält, haben sie dann keine Angst, dass sie den Anschluss des Fortschrittes verpassen – beispielsweise mit beim Eintritt in die EU oder bei den Beitritts- und Stabilisierungsabkommen? Zu den Kopenhagener Kriterien gehört ja auch das Verbot der Diskriminierung der sexuellen Orientierung wegen. Befürchten sie nicht, dass im Zuge der EU-Integration Moldaus auch hier solche Regelungen getroffen werden?
Die gibt es ja schon. Es gibt ja schon das Gesetz über die Nicht-Diskriminierung – aber das ist ein Diktat. Man sieht es an den Europawahlen, dass die Nationalisten stärker geworden sind. Wenn die EU so weiter macht wie bisher, dann wird sie innerhalb von fünf Jahren zerfallen und ihr droht ein Ende wie das der Sowjetunion. Ein Beamter in Brüssel war noch nie in Albanien oder in Moldova und diktiert dennoch, wie die Menschen dort zu leben haben. Das wird früher oder später zu Konflikten führen. Man darf keine Entscheidungen treffen, die die örtliche Spezifik nicht berücksichtigen, weil das zur Radikalisierung dieser Gesellschaften führt. […] Aber es gibt für uns Werte, die für uns nicht verhandelbar sind. Und wenn wir anfangen diese zu verhandeln, dann würde das unsere Identität gefährden. Wir sind ohnehin nur noch wenige – 160.000 Menschen. […]

Michail Formuzal
Michail Formuzal

Wie sieht die Arbeitsmigration aus Gagausien aus?
Es gibt zwei Hauptströme der gagausischen Arbeitsmigration: Die Männer gehen als Bauarbeiter auf die Baustellen nach Russland, die Frauen gehen in die Türkei, wo sie beispielsweise als Haushaltshilfe, Babysitterin, Altenpflegerin oder auch als Verkäuferin arbeiten. 33.400 Menschen arbeiten hier in Gagausien, 25.000 arbeiten im Ausland, in Russland und der Türkei. Diese schicken ungefähr 120 Millionen US-Dollar im Jahr nach Hause. Sie versorgen damit ihre Familien und bauen Häuser. Des Weiteren werden diese Gelder für medizinische Behandlungen oder für die Bildung der Kinder verwendet. Es gibt aber auch Leute die investieren, sowohl in die Landwirtschaft als auch in den Dienstleistungssektor oder die Industrie. Darum ist dies [der Zugang auf ausländische Arbeitsmärkte] für uns die wichtigste aller Fragen. Das heißt, die EU hat die Visumspflicht für Bürger aus Moldova aufgehoben, aber verweigert ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Idee dahinter ist: „Kommt uns besuchen und gebt hier Geld aus.“ Das haben wir aber nicht. Wohingegen Russland sagt: „Kommt zu uns, arbeitet bei uns, verdient etwas und schickt es zurück nach Hause.“ Das ist genau das, was die Menschen hier auch tatsächlich brauchen. Das macht einen Teil der Russlandorientierung aus. Wäre es andersherum, dann wäre die Orientierung der Gagausen eine andere.

Wie verhält es sich mit der Politik Russlands gegenüber Moldova, beispielsweise bei dem Verbot der Einfuhr von Weinen aus Moldova?
Wir haben das Problem gelöst. Unsere Weine entsprechen allen Anforderungen. Daher können nun auch die gagausischen Weine auf dem russischen Markt verkauft werden, was bei Weinen anderer [moldawischer] Regionen nicht der Fall ist. Aber ich verstehe, worauf sie hinauswollen und antworte mit einer Gegenfrage: Muss die moldawische Regierung – nur um der EU zu gefallen – an Russland Fußtritte austeilen? Warum müssen wir [die moldawische Regierung] die Russen provozieren? Ein deutscher Denker sagte mal: „Ich weiß, wie man einen Bären aus der Höhle lockt, aber ich habe noch kein Mittel gefunden ihn wieder in die Höhle zurückzubekommen.“ Warum sollte man also die Russen auf die Palme bringen? Man muss sie schätzen. Man soll die eigenen Interessen verfolgen, aber dabei niemanden auf die Füße treten. Mir gefällt auch nicht die große Korruption, die es innerhalb der Führung unseres Landes gibt. Mit gefällt nicht, dass Brüsseler Beamte und Politiker hierher kommen und den moldawischen Politikern auf die Schulter klopfen und sie für ihren Erfolg loben, obwohl es sich dabei um Politiker handelt, die sich die Taschen voll gestopft haben. Mir gefällt auch nicht, wie diese europäischen Mittel verwendet werden. Mir gefällt hier vieles nicht, doch im Interesse der Entwicklung der Autonomie und der Erhaltung der politischen Stabilität muss ich oft schweigen. Mit denjenigen, die aus Brüssel kommen und dafür sorgen, dass hier bei uns Gay-Paraden stattfinden, unterhalte ich mich auch, auch wenn ich nicht mit ihnen einer Meinung bin. Das gagausische Politikmodell, dass wir hier aufgebaut haben, entspricht den europäischen Kriterien. Hier gibt es freie Massenmedien, keine politische Verfolgung und die Besitzrechte von Geschäftsleuten sind geschützt. Die politischen Strukturen sind frei von Lobbyvertretern aus der Wirtschaft und der Mediensektor wächst. Im übrigen Moldova sieht man das genaue Gegenteil: Korruption, politische Verfolgung, Veruntreuung, keine Rechtsstaatlichkeit. Das wird dann in Brüssel der europäische Weg Moldovas genannt. Die Gagausen haben sich das angesehen und reagiert: 98% stimmten für die Zollunion mit Russland. Ich habe den polnischen Botschafter gefragt: „Nennen sie mir ein Kriterium, wo Gagausien nicht der europäischen Norm entspricht?“ Das hier ist Europa, Chișinău ist Afrika. Aber das dort nennt man eine Erfolgsgeschichte und uns wirft man vor, dass wir mit Russland zusammenarbeiten. Die Gagausen interessieren sich für den wirtschaftlichen Aspekt. Wir sind Pragmatiker: Wir wollen hier arbeiten, wir wollen einen Absatzmarkt für unsere Produkte haben, wir wollen eine gewisse Lebensqualität, wir wollen als Volk mitsamt unserer Gewohnheiten und Werte überleben, wir wollen das hier ein Leben mit Qualität möglich ist. Wir suchen nicht nach Feinden, sondern wir wollen Freunde haben. Ist das nicht ein europäisches Modell? Seit 12 Jahren realisiere ich dieses Modell und diese Werte.

Stehen sie im Austausch mit der Regierung von Transnistrien?
Wenn ich nach Transnistrien fahren würde, dann würde man mich sofort als Separatisten betiteln. Denn die Zentralregierung [in Chișinău] würde sich sofort fragen: „Was macht der Formuzal dort?“ Das ist aber das Denken von Menschen mit schweren Defiziten. Ich habe gute Beziehungen mit dem Präsidenten von Transnistrien. Ich sehe in den Menschen dort keine Feinde, im Gegenteil sogar ein großes Potential für Zusammenarbeit. Bis jetzt gibt es einen Austausch im Bildungs- und Kulturbereich. Im wirtschaftlichen Bereich ist das noch sehr schwach. Aber die persönlichen Kontakte sind sehr gut – aber ich habe mit Allen gute Beziehungen, da ich ja nicht nach Feinden suche! […]

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Werbung, wie hier neben dem Zentralpark, ist in Gagausien ausschließlich moldawisch- und russischsprachig. Nur einige offizielle Beschriftungen sind in Comrat auch auf Gagausisch zu finden.

Welche Identität haben die Gagausen – ist diese moldawisch oder überwiegt das gagausische?
Die Gagausen sind eine moderne, vollwertig bestehende europäische Nation mit einem großen intellektuellen Potential, die gut organisiert ist. Wenn wir als Gagausen mit nur 160.000 Einwohnern sogar ohne Blutvergießen eine eigene Autonomie bekommen haben, zeigt das schon einen starken Geist dieses Volkes. In Europa gibt es schließlich Völker mit mehr als einer Million Menschen, die aber trotzdem keinen eigenen Staat oder Staatlichkeit haben. Und wir besitzen unsere eigene Staatlichkeit innerhalb der Republik Moldova. Jeder Gagause wird ihnen sagen, dass seine Sprache das Gagausische sei. Er wird nicht sagen, es sei das Türkische oder Tatarische. Außerdem ist Gagausisch das Herzstück der turksprachigen Welt. […] Wir unterscheiden uns von den Moldawiern, da es in der moldawischen Elite viele gibt, die ihr eigenes Staatsprojekt nicht für dauerhaft halten und nach dessen Liquidierung streben. Wir haben hier ein Projekt, dass wir für dauerhaft halten und wir wollen, dass es dauerhaft sein wird. […]

Gibt es innerhalb der gagausischen Gemeinschaft noch eine Art Sowjetnostalgie?
Ja, diese Nostalgie gibt es noch. Wenn man dieser Tage ein Referendum durchführen würde, ob man für die Rückkehr zur Sowjetunion sei, dann würden 98% dafür stimmen. Das war kein so schlechter Staat, wo die soziale Absicherung der Bevölkerung sich auf einem ziemlich hohen Niveau befand. Es gab natürlich Probleme in diesem Staat, aber von den 1960er bis in die 1990er Jahre ging es den Leuten gut.

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Vor dem Regierungsgebäude in Comrat steht nach wie vor die Statue Lenins. Auf dem Dach wehen die moldawische und die gagausische Flagge.

Warum haben sie nicht versucht, den gagausischen Kurs auch in Moldova zu fahren oder mehr Einfluss auf die zentralen Entscheidungen zu nehmen?
Eine gute Frage. Ich schlage vor, dass wir einen Fond einrichten. Die Mittel die dort einfließen werden zum Aufbau einer Partei verwendet. Diese soll „Partei der Regionen Moldovas“ heißen. Bei den Parlamentswahlen am 30. November [2014] wird man dann aufgrund der Mittel fähig sein einen Wahlkampf im ganzen Land zu betreiben und damit unsere Politik auf das ganze Land zu übertragen. Denn es gibt in Moldova eine Generation von neuen und gebildeten Politikern. Wenn die an die Macht kommen, dann wird es auf jeden Fall helfen die alte Generation zu ersetzen, die sich mittlerweile die Taschen voll gestopft hat. Aber es wird schwer sein an die Macht zu kommen, weil wir keinen Zugang zu den korrupten Medienoligarchen und kein Geld für den Druck von Flyern haben. Darum werden wir es sehr schwer haben, es bis ins Parlament von Moldova zu schaffen. […] Ich will euch sagen, dass ich seit dem Fall der Sowjetunion zu denjenigen gehört habe, die gegen die [pro-russischen] Kommunisten [in Moldova] gekämpft habe und ich dafür war, dass die [liberalen, pro-westlichen] Demokraten an die Macht kommen. Gegen mich selbst wurde deshalb sogar ein Gerichtsverfahren angestrengt. Aber es sind [ab dem Jahr 2009] keine Demokraten an die Macht gekommen, sondern mutierte Kommunisten – sie sind schlimmer als die Kommunisten. […]

Wie sieht die Kompetenzverteilung zwischen dem gagausischen Gebiet und der Zentralregierung Moldovas aus?
Auf dem Papier hat unsere Autonomie relativ viele Rechte, in der Realität werden aber viele Dinge in Chișinău entschieden. 1994 wurde das Gesetz zur rechtlichen Stellung der Autonomie angenommen, aber seitdem nicht in die Wirklichkeit umgesetzt – seit 20 Jahren. Leider.

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