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Kvartirnik heißt Zimmerparty!

Kvartirnik

Die russische Jugend belebt eine alte Tradition neu – das gesellige Zusammensitzen und Rezitieren von selbstgeschriebenen Geschichten und Gedichten. Mal melancholisch, mal zum Lachen, aber immer zu Hause, in Wohnstuben oder Küchen. Zu Essen und zu Trinken gibt es reichlich und manchmal endet der Abend sogar in einer wilden Feier…

Solch eine Verabredung wäre in Deutschland vermutlich eher ungewöhnlich, die Wenigsten würden eine Lesung in den heimischen vier Wänden überhaupt als Party bezeichnen. Dazu kommt, dass das Thema Literatur bei vielen Jugendlichen hierzulande eher eine untergeordnete Rolle spielt. In Russland dagegen nehmen Schriftsteller und Autoren eine Ausnahmerolle ein und genießen teilweise eine höhere Wertschätzung als Politiker oder Musikstars.

Wohnzimmergeschichten

Kein Wunder also, das man gerne zu Freunden kommt, um deren Poesie zu hören. Diese Art des gemeinschaftlichen Beisammenseins heißt Kvartirnik (russisch von kvartira, in etwa mit Zimmerparty zu übersetzen) und hat bereits eine lange Tradition.

Denn eine russische Salonkultur zur Rezeption von Literatur entstand schon zur Zarenzeit und erlebte ihren Höhepunkt am Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals lud zwar eher die Oberschicht zu den feinen Veranstaltungen ein, doch rückte der Kvartirnik spätestens zu Sowjetzeiten schnell in die Mitte der Gesellschaft – die Hauptursache ist in den eng gesetzten, zensorischen Grenzen für die Autoren zu suchen.

Der Sozialistische Realismus war die ausgewiesene Stilrichtung, so dass sich jeder Schriftsteller oder Poet an die engen Vorgaben gebunden sah. Gelesen und demzufolge auch gedruckt wurden nur die Mitglieder des Schriftstellerverbandes und nach strengen zensorischen Prüfungen: Eine sozialistische Sprachwelt war Grundvorrausetzung, ideologisch und natürlich KP-konform musste das Werk sein. Die staatliche Kontrolle hatte zur Folge, dass Literatur in kontrollierter Menge gedruckt und verbreitet wurde.

Untergrundliteratur

Parallel entstanden die unterschiedlichsten Formen und Möglichkeiten dieser Gängelung der Literatur durch die Regierung und des totalitären Regimes zu entkommen: Einerseits entstand die so genannte Samisdat-Literatur, das heißt im Eigenverlag vervielfältigte und verbreitete Texte. Anderseits wurde diese Literatur sowie Selbstgeschriebenes in kleinen, sehr vertrauten Kreisen, wie Lesezirkeln unter Studenten, Literaten und Intellektuellen, rezitiert. Besonders die Zirkel der Studenten wurden sehr populär, grade auch weil man nur im Privaten – oft nicht mal dort – die Möglichkeit hatte der allgegenwärtigen Kontrolle des Staates zu entgehen und seine Werke mit Gleichgesinnten zu teilen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 fiel auch diese Zensur weg. Eigentlich brauchte man nun die „geheimen“ privaten Lesungen, die Kvartirniks, nicht mehr. Trotzdem besinnt sich die Jugend seit ein paar Jahren wieder auf die Tradition des Kvartirnik. Einer der wichtigen Faktoren ist jetzt die soziale Komponente, welche mittlerweile eine weitaus wichtigere Stellung einnimmt und die dafür sorgt, dass besonders Nachwuchsautoren im kleinen Rahmen eine gute Möglichkeit bekommen ihre Werke zu veröffentlichen und direkte Reaktionen zu erhalten. Für viele ist das weitaus authentischer als sie nur halbanonym ins Internet zu stellen.

Das Sofa als Bühne

Eine dieser Nachwuchspoeten ist Vera Polozkova. Sie ist russlandweit populär und erfreut sich vor allem unter jungen, internetaffinen Landsleuten großer Beliebtheit – dabei war das Internet bei ihr aber vor allem Mittel zum Zweck, ihre Gedichte und Geschichten zu verbreiten. Vera lud Freunde und Bekannte in eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem modernen Plattenbau in Nowosibirsk ein (sie nahm dort am internationalen Bloggertreffen „Novoblogika Int.“ teil), um ihre neuesten Werke allen Interessierten zu präsentieren – Zeit und Ort wurden persönlich weitergegeben, fast genauso wie früher:

Jeder der ausländischen Beteiligten fragt sich, warum man solch einen wunderbaren Abend nicht auch einmal zuhause, hier in Deutschland, veranstaltet und so Literatur zu einem lebendigen, gemeinschaftlichen Erlebnis macht. Viele kleine Geschichten haben es verdient, einem etwas größeren Publikum vorgestellt zu werden.

Der Artikel erschien zuerst bei To4ka-Treff. Auf Flickr gibt es weitere Fotos des Abends.

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