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Eine ganz normale Sightseeing-Tour? Strahlende Erinnerungen fürs Fotoalbum

Wer alle „klassischen“ Sehenswürdigkeiten der Welt gesehen hat, mit Haien getaucht ist und auch schon den Kilimandscharo bestiegen hat, dem bleibt nur die Unsichtbare Gefahr – Radioaktivität. Für etwas Geld und viel Wagemut kommt man schon in die Sperrzone um das 1986 havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl.
Prypjat
Eine sechsspurige Ausfallstraße liegt zwischen der Endhaltestelle der Roten Linie der Kiewer Metro und einem lebendigen Tagesmarkt im Norden der Stadt. Ein grüner Omnibus sticht heraus. Es mag an der Farbe liegen, denn die meisten Kiewer Marschrutkas sind in knalligem Gelb gehalten, oder aber an dem Wissen, dass dieser Bus 28 Teilnehmer eines multilateralen Projekts an einen der meistverseuchten Orte der Welt bringen wird – in die Sperrzone um Tschernobyl – freiwillig, sowie mit einer Menge Kameraequipment und Hintergrundwissen im Gepäck.
Tschernoybl

Willkommen in der Zone

Die Anspannung in der Gruppe steigt merklich an, als am Ditjatki-Checkpoint, am Rand des mittlerweile rund 4300 km² großen Sperrgebietes, ein junger Soldat den Bus betritt. In der Hand hält er die Liste aller Tagesgäste, welche augenblicklich die Zone offiziell betreten werden – die Teilnehmer eines Workshops zum Thema Tschernobyl und heute auch „Extremtouristen“.

Sorgsam hakt er alle kontrollierten Passnummern ab. Ruhig und routinemäßig. Seit der Öffnung der Sperrzone für Pauschaltouristen 2002 werden es Jahr für Jahr mehr Besucher. Offizielle Zahlen des unter „Ökotourismus“ oder „Lernen aus der Geschichte“ laufenden Programms der Regierung gibt es nicht. Allerdings dürften weit über 1000 Besucher in diesem Jahr zu erwarten sein.

Eine offizielle Anmeldung, wie sie für eine solch große Gruppe notwendig ist, kostet pro Person ungefähr 50 Dollar. Der Guide ist bereits inbegriffen. Also ein echtes Schnäppchen…

Dafür mussten im Vorfeld sämtliche Passnummern durchgegeben und eine detaillierte Projektbeschreibung zur Prüfung vorgelegt werden. Alles wurde akribisch geprüft und jeder Teilnehmer ausgiebig durchleuchtet. So teilt man der Gruppe mit, dass man Bescheid wüßte, wer schon einmal die Zone betreten hatte oder wer politisch aktiv ist. Die Gruppe bekommt schließlich die Erlaubnis und so steht dem Eintritt in die Zone faktisch keine Hürde mehr im Weg.

Die erste Schranke zur Sperrzone öffnet sich und kurz danach steigen zwei Guides hinzu. Der erste Anlaufpunkt ist das Chernobyl InterInform in Tschernobyl, die staatliche Anlaufstelle für alle Besucher in der Zone.

Zum Hintergrund: Für den „Extremtourismus“ wurde ein extra Regierungsdepartment geschaffen, welches dem Ministry of Extraordinary Situations of Ukraine unterstellt ist, um die Bewegungen innerhalb der Sperrzone zu kontrollieren und zu verwalten. Die Hauptaufgabe des Ministeriums besteht darin, die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl zu schützen.

Tschernoybl

Alles im Toleranzbereich

Eigentlich wohnen nur noch rund 400 von vormals 14.000 Menschen in der Stadt Tschernobyl. Die Straßen wirken weitaus belebter als man erwarten würde. Natürlich sind die meisten Gebäude verrammelt. Natürlich sieht man zum Großteil Männer in Uniformen. Und natürlich ist die Stadt auch etwas ungepflegt, geradezu verwildert. In ihre Hütten zurücklaufende Babuschkas und handzahme Katzenbabys geben der ganzen Szenerie etwas Widersprüchliches und Groteskes.

„Die Wege sind nicht zu verlassen, dem Guide ist unbedingt Folge zu leisten!“, lautet der letzte eindringliche Ratschlag, bevor alle zum einzigen restaurierten Gebäude gebracht werden – der orthodoxen Kirche St. Elias am Rand der ehemaligen Kleinstadt. Der imposante Bau erstrahlt wie frisch gestrichen und bietet sich deshalb als nicht allzu oft fotografiertes Objekt an, bevor die verlassenen und zerfallenen Häuser auf der anderen Straßenseite die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich ziehen. Die ersten einhundert Fotos sind verschossen.

Das kleine Stadion am Rande von Tschernobyl ist von Pflanzen überwuchert. Wo einst Fußballspiele und Spartakiaden stattfanden, befindet sich nun ein kleines Freiluftmuseum der besonderen Art. In der Nähe des nicht mehr zu erkennenden Mittelkreises stehen zwei ausrangierte Panzer und ein Feuerwehrauto, die bei der Katastrophe kontaminiert wurden. Direkt vor dem Ensemble hat man ein auffälliges „Radioaktivitäts“-Zeichen in den Boden gerammt – gerade so, als könnte einem dieser Umstand hier entfallen.

Der Geigerzähler kommt zum ersten Mal zum Einsatz und beweist, dass das verrostete Metall der Fahrzeuge radioaktiv strahlt. Die Mutigsten berühren die Fahrzeuge, die weniger Mutigen halten sich in vermeintlich sicherer Entfernung. Am Rande des Sportfeldes blühen Blumen, die, frisch gepflanzt, so gar nicht hierher passen. Die Hupe des Busfahrers beendet den zweiten Programmpunkt der Tour. Es geht weiter.

Am Ortsausgang, genau vor der Feuerwehrstation Tschernobyls, steht das beeindruckende Denkmal für die Feuerwehrmänner, die im Kampf gegen den schwelenden Graphitbrand im Inneren von „Block 4“ schwere Strahlenschäden davontrugen oder sogar ihr Leben ließen. Der Gruppe bleiben zehn Minuten Zeit, um ein schnelles Erinnerungsfotos von dem Monument zu schießen, das von einigen Betroffenen selbst gestaltet wurde.
Tschernoybl

Der Sarkophag des Grauens

Kurz nachdem man den zweiten Kontrollpunkt, Lelev, problemlos passiert, erscheint das Ungetüm: der verunglückte „Reaktor Nummer 4“, der Sarkophag. Das verrostete Stahlmonster ist schaurig schön für die einen, erschreckend für die anderen und bedrohlich für alle. Der Geigerzähler schlägt aus, so heftig wie noch nie – nur 200 Meter Luftlinie entfernt von der rostigen Außenhaut. Jetzt wird die europäische Norm für Gamma-Strahlung mehr als 20 Mal überschritten. Absurd, aber genau das ist, zusammen mit dem Sarkophag im Hintergrund, ein perfektes Motiv.

Die Fahrt im grünen Reisebus führt nun in die Geisterstadt Prypjat. Hier sollte nach dem Willen der sowjetischen Planer eine Vorzeigestadt entstehen. So erfolgte 1970 die Grundsteinlegung der ersten Wohnblocks, kurz vor Inbetriebnahme des Kernkraftwerks. Im Jahr der Katastrophe wohnten dort über 45.000 Menschen – vor allem junge Familien mit Kindern. Und nur drei Kilometer vom Reaktor entfernt.

Inzwischen wohnt dort keine Menschenseele mehr. Der Bereich ist militärisch abgeriegelt. Ein Stacheldrahtzaun umringt die Stadt und ein Außenposten der Armee überwacht die ein- und ausgehenden Touristengruppen.
Prypjat

Haltestelle Prypjat

Der Bus parkt vor dem ehemals größten Hotel der Stadt. Vorbei am Theater durch einen kleinen Wald schlängelt sich wenig später die Reisegruppe. Eindrucksvoll stellt der Guide die im Moos gebundene Strahlung unter Beweis. Je länger der Geigerzähler über die unscheinbare Pflanze gehalten wird, desto höher steigt der Zähler, am Ende wird die Norm um das 100-fache überschritten.

Hinter dem Theater befindet sich der Festplatz, auf dem für das 1. Mai-Fest 1986 Fahrgeschäfte aufgebaut wurden. Das riesige Karussell und der Autoscooter wurden nie von den Kindern Prypjats benutzt. Diese beiden Stahlkolosse sowie ein paar kleinere Attraktionen geben das kontrastreichste Fotomotiv der Stadt ab. Allzu nah sollte man den total verrosteten Gefährten aber nicht kommen, denn Metall konserviert Radioaktivität ähnlich lange wie Moos. Je länger man diese unheimliche Kindheitsidylle durchstreifet, desto unbequemer und bedrohlicher wirkt sie. Die Gefahr lauert überall, ist nicht aufzuhalten, kriecht den Rücken hinauf und überzieht die „Extremtouristen“ mit Unbehagen.

Ein Teil der Gruppe wartet bereits nervös am Bus, während der Rest noch durch das Innere des ehemals stattlichen Theaters streift. Diese einmalige Konstellation, das Pseudogefühl der Einsamkeit, (Sowjet-)Nostalgie und der Gedanke im Hinterkopf, hier nie wieder hinzukommen, treibt den Adrenalinspiegel und die Betätigung des Auslösers in die Höhe. Die Radioaktivität und damit die allseits präsente Gefahr werden dabei ausgeblendet oder ob des „einzigartigen Abenteuers“ in Kauf genommen. Das Erdgeschoss des Theaters ist nach kurzer Zeit so überlaufen, dass es schwierig wird Fotos zu schießen, ohne andere Menschen mit auf dem Bild zu haben – denn die würden ja die Illusion der Geisterstadt, und somit die ganze Szenerie, zerstören.

Am späten Nachmittag, nach über fünf Stunden in der Sperrzone und mit gut einem Viertel der Strahlenbelastung der dort immer noch arbeitenden Kernkraftwerkarbeiter, wird wieder der Ausgangspunkt erreicht. Am Kontrollpunkt Ditjatki wird zum letzten Mal die Strahlendosis der Teilnehmer überprüft und viele wechseln ihre Kleidung. Die Schuhe wandern direkt in den Müll – eine extra bereitgestellte Schubkarre.

Vergänglich werden die Erinnerungen sein, vielleicht auch die Fotos, die man den eigenen Enkeln irgendwann einmal zeigt. Was aber noch über die nächsten Generationen hinaus existieren wird, ist die radioaktive Strahlung – und damit auch der Reiz für die künftigen „Extremtouristen“.

Dieser Artikel erschien in der 9. Ausgabe der politischen Zeitschrift conText sowie in einer gekürzten und veränderten Variante auf To4ka-Treff.

Tschornobyl

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Prypjat

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