Gegenüber westlichen Vertretern gibt sich Alexander Lukaschenko derzeit so offen wie lange nicht. Mit der Freilassung der politischen Gefangenen Mitte August erfüllte er eine der Kernforderungen der EU. Allerdings ändert das bisher nichts an den repressiven Bedingungen für Zivilgesellschaft und unabhängige Medien.
Die Nachricht verbreite sich am Abend des 22. August wie ein Lauffeuer: „Aus humanitären Gründen“ lässt Alexander Lukaschenko alle sechs derzeit inhaftierten politischen Gefangenen frei. Noch am selben Abend empfing eine riesige Menschenmenge am Minsker Ost-Busbahnhof den bekanntesten von ihnen: Mikalaj Statkewitsch. Der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat bei der Wahl 2010 saß seit Mai 2011 in Haft, nun wurde seine Rückkehr mit zahllosen „Schywe Belarus!“ – Rufen („Es lebe Belarus!“) bejubelt.
Es ist der bisherige Höhepunkt eines liberalen Trends, der das osteuropäische Land seit einigen Wochen zu erfassen scheint. Schon zuvor erlaubte das autoritäre Regime der Opposition die benötigten 100.000 Unterstützerunterschriften für die kommende Präsidentschaftswahl am 11. Oktober ungewohnt frei auf Marktplätzen oder vor Fabriken im ganzen Land zu sammeln.
Außerdem gab Lukaschenko am 4. August zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt im Jahr 1994 unabhängigen Medien eine eigene Pressekonferenz. Statt der geplanten 90 Minuten stand der Präsident den Journalisten von TUT.BY, Euroradio und Radio Free Europe sogar über vier Stunden Rede und Antwort.
Vereinigungsfreiheit ist nach wie vor eingeschränkt
Jury Tschawussau sieht die Freilassung der politischen Gefangen zwar als kleinen politischen Schritt, aber dennoch eher symbolisch. Als Vorstandsmitglied bei der „Assembly of NGOs of Belarus“, der größten Vereinigung von pro-demokratischen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen in Belarus, kennt er die Problemlage genau. Der 1997 gegründete Verband vertritt mehr als 300 Organisationen, darunter viele, deren Registrierung staatlicherseits abgelehnt wurde.
„Sowohl die belarussische Gesetzgebung als auch die aktuellen Strafverfolgungspraktiken sind nicht wirklich förderlich für die Entwicklung von gemeinnützigen Organisationen“, erklärt Tschawussau. Im Gegensatz zur Verfassung des Landes und seiner internationalen Verpflichtungen ist die Vereinigungsfreiheit sehr eingeschränkt, Aktivitäten von nicht registrierten Organisationen werden strafrechtlich verfolgt.
Deshalb glaubt Tschawussau, dass die jüngsten Maßnahmen insbesondere darauf abzielen Barrieren für den Dialog mit dem Westen abzubauen, sie sind aber kein Zeichen einer Liberalisierung: „Es ist korrekter von Entspannung zu sprechen, die eher außenpolitischen Zielen dient, als von aufrechten Bemühungen die Innenpolitik verändern. Zwar gab es in der ersten Jahreshälfte weniger Fälle von Repressionen gegen politische und zivilgesellschaftliche Aktivisten, doch es wurden auch einige Gesetzesänderungen und Beschlüsse zur Eingrenzung der Redefreiheit eingeführt sowie Internetseiten blockiert“, so der Anwalt.
Auch der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki relativiert die momentane „Liberalisierung“. Bjaljazki gründete 1996 das Menschenrechtszentrum „Viasna“ und saß selbst von 2011 bis 2014 unter fadenscheinigen Vorwürfen in Haft. Er sagt: „Einige zivilgesellschaftliche Aktivisten haben nach wie vor Probleme, darunter Menschrechtler und unabhängige Journalisten.“ So wird der Menschenrechtsaktivist Leanid Sudalenka aufgrund seiner Aktivitäten noch immer von den Behörden in Gomel verfolgt. Bjaljazki führt auch aus, dass Druck von überall her kommt, sei es vom Finanzamt oder von Grenzbeamten bei der Ein- oder Ausreisen.
Freilassung der politischen Gefangenen war „ein absolut logischer Schritt“
Zugleich erinnert Bjaljazki an negative Begleiterscheinungen früherer „Tauwetter“-Perioden, wie vor der letzten Präsidentschaftswahl 2010. „Immer wenn es einen Anstieg der Kontakte zwischen belarussischen Behörden und der Europäischen Union gab, dann trat die NGO-Problematik in den Hintergrund, die EU reduzierte die Kontakte mit belarussischen NGOs – auch die verschiedenen Formen der Unterstützung gingen zurück.“
Belarus befindet sich in einer komplizierten Situation. Aufgrund der Wirtschaftskrise stehe intern die Zukunft des sozioökonomischen Modells in Frage, fasst Jauhen Prejherman die aktuelle Entwicklung zusammen. Er ist Analyst beim Think Tank „Ostrogorski Centre“ und Policy Director beim Minsker „Liberal Club“. „Es gibt ein breites Verständnis in der Regierung und auch innerhalb der Gesellschaft, dass Reformen unvermeidlich sind.“ Zugleich ist das Regime auf der Suche nach neuen Krediten. Extern sind neue Herausforderungen im Zuge des Ukraine-Konflikts entstanden. Wenn die Eskalation zwischen dem Westen und Russland weiter wachse, werde auch die Souveränität von Belarus bedroht, so Prejherman.
Angesichts dieser Faktoren war die Freilassung der politischen Gefangenen „ein absolut logischer Schritt“, sagt der 29-jährige Politikwissenschaftler. Ist diese doch Teil des Verhandlungsprozesses mit dem Ziel die Beziehungen zur EU und den USA systematisch zu verbessern.
„Darüber hinaus waren Wahlen schon immer ein zusätzlicher Impuls für die belarussischen Behörden die Gespräche mit dem Westen zu intensivieren. Doch dieses Mal sind die geopolitische Lage in der Region und die wirtschaftlichen Probleme von Belarus vielleicht von noch größerer Bedeutung als die Wahlen selbst.“ Auch deshalb scheint Prejherman ein Rückfall wie nach den Wahlen 2010 eher unwahrscheinlich – „wenn nicht irgendwelche unerwarteten Überraschungen auftreten“.
Dieser Artikel wurde zuerst auf dem „Belarus Votes 2015: Election Blog“ veröffentlicht.