„Salome, Salome!“, halt es durch das fast leere Restaurant. Aus einem Séparée dringen die Rufe nach außen, nur ein lila Vorhang trennt den Bereich vom großen Saal. Drinnen sitzen sieben Männer, halbleere Teller stapeln sich auf dem Tisch, eine wuchtige Weinkaraffe dreht unentwegt ihre Runden. Und wieder ruft einer der Männer feixend: „Salome, bring uns Käse!“.
Doch Salome arbeitet heute gar nicht in dem Restaurant in Gardabani, einer Kleinstadt rund 40 Kilometer südöstlich von Tbilissi. Es ist die erst vor wenigen Tagen frisch gewählte Präsidentin Salome Surabischwili, die die Männer immer wieder ansprechen – und auf die sie trinken. Zwar feiert an diesem regnerischen Dezembertag einer der Männer seinen 30. Geburtstag, doch nachdem die Gruppe die Ausländer am Nachbartisch entdeckt und eingeladen hat, dreht sich alles nur noch um Surabischwili.
Die Männer sind Anhänger der Regierungspartei Georgischer Traum. Das ist wenig überraschend: Zur Grenze nach Aserbaidschan sind es nur ein paar Kilometer, in Gardabani und anderen mehrheitlich von Aseris (oder Armeniern) bewohnten Regionen Georgiens wird traditionell die Partei der Macht gewählt. Ob die Georgische Bürgerunion von Eduard Schewardnadse, Micheil Saakaschwilis Vereinte Nationale Bewegung oder nun eben der Georgische Traum von Bidsina Iwanischwili: Sie alle fuhren in Regionen mit hohem Minderheitenanteil überdurchschnittlich gute Ergebnisse ein.
Giorgi kann das nicht nachvollziehen. Der Endzwanziger hat mehrere Jahre in Polen und Litauen gelebt. Erst seit einem Jahr ist er wieder zurück in seinem Heimatland. Die Nähe gerade der Alten zum Georgischen Traum belächelt er. Bei der Präsidentschaftswahl hat er sein Kreuz weder bei Surabischwili noch bei ihrem Konkurrenten Grigol Waschadse von der größten Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung gemacht. Beide hält er für unwählbar: „Sie versprechen all das, was die Leute hören wollen. Doch nach der Wahl erfüllen sie das nicht.“ So habe Surabischwili im Wahlkampf Zusagen gemacht, die sie im Amt als Präsidentin überhaupt nicht umsetzen kann.
Die Opposition: Mal „Nazis“, mal KGB-Agenten
Angesichts der weitreichenden finanziellen und administrativen Potenz des Georgischen Traumes, der die offiziell unabhängige Kandidatin Surabischwili unterstützte, war es einer Überraschung, dass es erstmals in der Geschichte Georgiens zu einer Stichwahl kam. Bevor sich dort Surabischwili mit 59,5 Prozent durchsetzte, versank das Land in den Wochen zuvor in einem schmutzigen Wahlkampf und Negativkampagnen beider Seiten: Der Georgische Traum schmähte die Saakaschwili-Partei mal als „Nazis“, mal als KGB-Agent, sprich als vom Kreml kontrollierte Marionetten. Die Vereinte Nationale Bewegung warf der Regierungspartei ihrerseits eine Nähe zu Moskau vor. Der der Opposition nahestehende und beliebte TV-Sender Rustawi-2 attackierte Surabischwili fortwährend und stellt die Politikerin als verräterisch, inkompetent und sogar als sexuell freizügig dar.
Daneben gab es direkte Versuche der Wählerbeeinflussung. So kündigte die Regierung knapp eine Woche vor der Wahl an, 600.000 Bürgern (etwa 16 Prozent der Bevölkerung) ihre Schulden zu erlassen. Eine Stiftung von Milliardär Iwanischwili wollte die Kosten in Höhe von 1,5 Milliarden Lari (500 Millionen Euro) übernehmen. Nach der Wahl kristallisiert sich nun heraus: Einen Schuldenschnitt wird es wohl nicht geben, die Idee wurde seit der Abstimmung nicht mehr thematisiert.
Giorgi findet, dass sich fast alle georgischen Politiker „kindisch“ verhalten. Sinnbild für ihn ist die Entscheidung Surabischwilis: Sie will nach ihrer Amtseinführung nicht in den von Saakaschwili errichteten Präsidentschaftspalast ziehen. Stattdessen will sie in einem normalen Wohnhaus im Zentrum Tbilissis wohnen.
Doch selbst wenige Tage vor der feierlichen Inauguration am 16. Dezember ist das Gebäude und dessen Umgebung noch eine riesige Baustelle. Die Straßen in der Umgebung gleichen einem Schlammloch. „Im gegenüberliegenden Park hat früher die halbe Stadt ihre Notdurft verrichtet“, erinnert sich Giorgi sarkastisch. Nun soll das grüne Eiland mitten im Winter binnen kürzester Zeit runderneuert werden.
„Bei uns hat jeder einen anderen Kandidaten gewählt“
Doch nicht nur Regierung und Opposition entfernen sich in großen Schritten voneinander, auch die Jugend in der Hauptstadt von der Politik. „In meiner Familie haben in der ersten Wahlrunde alle einen anderen Kandidaten gewählt“, sagt Kusa. Sie ist wie viele junge, gut ausgebildete und mehrsprachige Georgier gerade auf Jobsuche, in den vergangenen Jahren hat sie im Kulturbereich gearbeitet. Weiter sagt sie: „In der Stichwahl habe ich gegen alle gestimmt, ich habe beide Kandidaten durchgestrichen.“ Mit am Tisch in dem hippen Restaurant in der Altstadt von Tbilissi sitzt auch Ladouka, den alle nur Lado nennen. Er will die aktuelle Politik des Landes erst gar nicht kommentieren.
Lieber erzählt der Techno-DJ von seiner Kindheit in den 1990er Jahren und der einzigen Playstation in seiner Nachbarschaft. Jeder habe zwar diesen Jungen gekannt, doch hätte niemand seinen Namen gewusst, erzählt Lado schmunzelnd. Heute könnte er sich wohl gleich mehrere Spielkonsolen kaufen, legt er doch Platten nicht nur in den angesagtesten Clubs der Stadt, sondern auch im ganzen Land und selbst in Berlin oder Baku auf. In der aserbaidschanischen Hauptstadt wollen geschäftstüchtige Club-Besitzer das nachmachen, was in Tbilissi seit ein paar Jahren schon ganz gut gelungen ist: ein Image als trendige, hippe Metropole kreieren, das vor allem junge Touristen aus dem Westen anzieht.
Dieser Kosmos ist aber selbst in Tbilissi überschaubar: Er umfasst die Techno-Clubs „Cafe Gallery“, „Bassiani“ und „Khidi“ sowie die ehemalige sowjetische Näherei „Fabrika“, die seit 2016 unter anderem ein riesiges Hostel und Co-Working-Spaces beherbergt. Dazu kommen noch einige neue Craft-Bier-Bars und Cafés sowie ein paar ältere Kneipen wie das „Canudos“.
„Wir sind schon wieder über die Spitze hinweg“, sagt Lado mit Blick auf die Entwicklung in seiner Heimatstadt. Dazu kommt, dass viele einfach nur Berlin kopieren, die Musik, den Lifestyle, den Look. Laut Beobachtern der lokalen Szene haben nur wenige georgische DJs ihren eigenen Stil entwickelt. Aber immerhin: Die Strukturen in Tbilissi existieren. Die Clubs ziehen zwar tatsächlich auch junge Leute aus dem Westen an, doch laut Lado seien über 90 Prozent der Gäste Georgier. Der Musiker schätzt die Szene auf etwa 700 Leute, „jeder kennt jeden“. Er bestreitet aber, dass die Techno-Clubs nur ein Treffpunkt der georgischen Mittel- und Oberschicht seien. „Ich gebe meine Gästelistenplätze fast ausschließlich an Leute, von denen ich weiß, dass sie sich den Eintritt (umgerechnet meist 10 Euro, Anm.) nicht leisten können“, sagt Lado. „Die trinken dann im Club nur Wasser, haben aber trotzdem Spaß.“ Die Öffnung für breite Gesellschaftsschichten ist ihm wichtig, wie er betont.
„Die Dummen und Alten bleiben zurück“
Doch wie geht es weiter mit Georgien? Zwar sei die Situation in den vergangen zehn Jahren besser geworden, sagt ein deutscher Geschäftsmann, der schon seit über einem Jahrzehnt in Georgien tätig ist. „Die Korruption wird nun auch auf der mittleren Ebene viel besser verfolgt. Auch ich werde nun kontrolliert, was gut so ist“, sagt er. Aber zugleich klagt er über den Brain Drain, die Abwanderung von jungen, gut ausgebildeten Leuten. „Sie ziehen vom Land in die Stadt, von dort ins Ausland.“ Das Problem aus seiner Sicht: „Die Dummen und Alten bleiben zurück.“
Eine der Folgen ist ein zuletzt spürbar gestiegener Nationalismus, der auch auf den Straßen sichtbar geworden ist. Überall in Tbilissi sieht man „Russland ist ein Okkupant“-Sticker und -Stencils, dazu kommen Hakenkreuze in Hinterhöfen oder Aufkleber mit georgischen Großmachtfantasien – und immer wieder nationalistische und fremdenfeindliche Demonstrationen. Selbst in einigen hippen Kneipen weigert sich das Barpersonal mittlerweile Russisch zu sprechen, obwohl die meisten es problemlos könnten.
Über so viel Starrsinn könne Lado nur lachen. Er spreche besser Russisch als Englisch und passe sich einfach an den Gesprächspartner an, sagt er. Und entschwindet zum Flug zu seinem nächsten Auftritt im Ausland.