In Belarus gibt es keine Obdachlosen und keine Armut. So lautet zumindest die Staatsdoktrin der autoritären Regierung von Präsident Alexander Lukaschenko. Die Realität ist davon allerdings weit entfernt, wie eine Reise in das osteuropäische Land sowie Treffen mit Betroffenen und Vertretern von Hilfsorganisationen zeigen.
Ein Samstag im März. Nach einigen wärmeren Tagen fegt nun wieder Kälte durch die belarussische Hauptstadt. Schneeregen prasselt auf den Simón-Bolívar-Platz am Rande des Zentrums von Minsk. Dort harren bereits seit Längerem gut zwei Dutzend Obdachlose, Rentner sowie andere Hilfsbedürftige aus. Sie alle warten auf die Aktivisten von „Food not Bombs“. Die Graswurzelbewegung verteilt in Minsk bereits seit 2007 nahezu jeden Samstag warme Mahlzeiten und heiße Getränke – wenn es die Staatsmacht zulässt.
Denn für die Behörden ist die Ansammlung mitten in der Stadt ein Störfaktor. „Die Regierung will so tun, als gäbe es keine Probleme“, sagt einer der jungen Aktivisten der Schweizer „Wochenzeitung“. „Durch unsere Aktionen wird klar, dass es hier Armut gibt. Deswegen sind wir dem Staat ein Dorn im Auge.“ An diesem Tag schickt der zuerst einen Vertreter vom Ordnungsamt, um die Essensausgabe zu stören. Begleitet wird der Mann von einem Polizisten in zivil, wenig später kommt ein uniformierter hinzu. Für die Aktivisten ist das leidliche Routine, sie lassen sich von den Drohgebärden nicht abschrecken. Hastig verteilen sie das Essen. An dem Tag bleibt es bei den Einschüchterungsversuchen, niemand wird verhaftet.
Säuberungskampagne zur Eishockey-Weltmeisterschaft
Wie drastisch und zielgerichtet die Behörden gegen Obdachloseninitiativen und Betroffene vorgehen, zeigt erstmals ein Bericht, den das Belarussische Helsinki-Komitee in Zusammenarbeit mit der belarussischen Menschenrechtsorganisation Human Constanta und der Deutsch-Schweizer Menschenrechtsorganisationen Libereco* Ende April veröffentlicht hat.
Die Studie führt zahlreiche Beispiele für systematische Diskriminierung und die Willkür der Behörden auf. Besonders besorgniserregend ist die landesweite Praxis, Obdachlose aus den Stadtzentren zu entfernen. „Die Polizisten brachten uns etwa fünf bis sechs Kilometer außerhalb der Stadt, warfen uns raus und fuhren weiter“, wird ein Betroffener in dem Bericht der Menschenrechtler zitiert. Der Mann sei nicht selbst zurück in die Stadt gekommen, sodass er einen Krankenwagen rufen musste. „Und das ist schon mehrmals passiert“, erzählt er weiter. „Sie bringen uns einfach weg, und das war’s.“
Das aggressive Vorgehen gegen Obdachlose erreichte während der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 seinen bisherigen Höhepunkt. Im Vorfeld der internationalen Großveranstaltung hatte sogar die Minsker Stadtverwaltung angekündigt, die Stadt von „asozialen Elementen“ säubern zu wollen. Und sie machte ernst: Normalerweise ist die Suppenküche der Hilfsorganisation Otklik voll, es kommen so viele Menschen, dass nur in mehreren Gruppen nacheinander gegessen werden kann. So war es fast immer in all den 21 Jahren, so lange teilen Betreiber Alexander Tschernitski und seine Helfer schon Essen an Bedürftige aus. Doch anders bei der WM vor fünf Jahren: Damals sei die Suppenküche praktisch leer gewesen sei, erinnert sich Tschernitski.
Er geht wie viele andere, die Obdachlosen helfen, davon aus, dass es im Juni während der Europaspiele in Minsk erneut zu einer Welle von Verschleppungen kommt. „Es ist offenkundig, dass das (die Europaspiele, Anm.) ein weiterer Grund für Repressionen ist, sowohl gegen Aktivisten als auch gegen Obdachlose“, erklärt ein „Food not Bombs“-Aktivist in einem Video, dass die drei Menschenrechtsorganisationen online gestellt haben. Unter den Menschen, die auf der Straße leben, ging bereits Monate vor Beginn der Wettkämpfe die Angst um, erneut aus der Stadt vertrieben zu werden.
Keine Zahlen, keine Probleme
Offizielle Zahlen zur Obdachlosigkeit in Belarus gibt es nicht. Laut der letzten Volkszählung im Jahr 2009 habe es im ganzen Land nur 587 Obdachlose gegeben – zugleich hatte aber die Minsker Polizei berichtet, dass allein im Jahr 2008 mehr als 500 Obdachlose in der Hauptstadt verhaftet worden seien. Im Jahr 2013 erklärte der Arbeits- und Sozialminister, dass landesweit 4.000 Obdachlose registriert seien.
In Belarus gibt es neun Obdachlosenunterkünfte, nur eine davon in Minsk, wo mehr als ein Fünftel der belarussischen Bevölkerung lebt. Noch gravierender ist die Situation in Brest an der Grenze zu Polen: Die mit 350.000 Einwohnern sechst größte Stadt Belarus‘ verfügt über kein Obdachlosenheim, obwohl dort laut Experten mindestens 200 Menschen Hilfe benötigen. Behördenvertreter reden das Problem klein, die staatliche Politik vernachlässigt es in höchstem Maße.
Pawel Solotuchin leitet das Minsker staatliche „Haus für Übernachtungen von Personen ohne bestimmten Wohnsitz“. Für Solotuchin sind die Obdachlosen – die er fortwährend als „Penner“ (russisch Bomsch) bezeichnet – selbst schuld an ihrer Situation. Wer arbeiten wolle, finde auch Arbeit, meint Solotuchin. Doch wer keinen festen Wohnsitz hat, der bekomme nur schwer einen Job, wie unabhängige Beobachter und Betroffene übereinstimmend berichten. Selbst wenn man in einem der wenigen Heime untergekommen ist, gilt das für viele Arbeitgeber als Stigma.
Dazu kommt: Der Zugang zu den staatlichen Übernachtungsmöglichkeiten ist äußerst restriktiv. So müssen die Hilfsbedürftigen in der jeweiligen Stadt registriert sein, was mit unüberwindbaren Kosten verbunden sein kann, insbesondere bei Menschen ohne (gültige) Papiere. Auch die maximale Aufenthaltsdauer ist dort beschränkt, meistens auf ein Jahr.
Wie schnell Menschen in Belarus in die Obdachlosigkeit abrutschen können, zeigt der Fall von Valentin. Der 53-Jährige habe in Afghanistan gekämpft, wie er stolz nach einer Essensausgabe von „Food not Bombs“ erzählt. Er habe früher eine Wohnung im Zentrum von Minsk besessen. Doch man habe ihn mit den Unterlagen für die Wohnung getäuscht und zusammengeschlagen. Als er nach der Behandlung von der Intensivstation zurück nach Hause kam, hätten bereits andere Menschen in seiner Wohnung gelebt.
„Ich schäme mich!“
Valentin hatte Glück, er kann in der staatlichen Minsker Obdachlosenunterkunft wohnen. Er humpelt, er sei in einen Nagel getreten, erzählt Valentin. Ob das stimmt, ist schwer zu sagen. Möglich ist auch, dass er Erfrierungen im strengen belarussischen Winter erlitten hat.
„Auf der Straße kommt die Miliz oft zu mir“, berichtet er. „Aber wenn ich die Dokumente (seinen Veteranenausweis, Anm.) zeige, dann lassen sie mich in Ruhe.“
Sein Sohn und seine Enkel leben im Ausland, wie Valentin sagt. „Wenn sie wüssten, was mir passierte, würde ich jetzt nicht vor Ihnen stehen“, sagt Valentin. Er habe die Familie seines Sohnes erst vor Kurzem angerufen. „Sie fragten: ‚Wie geht es dir?‘ – ‚Es geht mir gut!'“, habe er geantwortet. „Ich sage ihnen nicht, was mit mir passiert ist, ich schäme mich!“ Es gebe jetzt die Enkelkinder, die gefüttert werden und in die Schule gebracht werden müssten.
Und Valentin? Er bemerkt: „Ich werde mich hier selbst um mich kümmern.“ Wohl auch notgedrungen.
* Transparenzhinweis: Ich bin Vorsitzender von Libereco, an der Ausarbeitung des Berichts war ich nicht beteiligt.