Eine Elektritschka im Bahnhof von Taiga. Dieser bildete nach Eröffnung der Station im Jahr 1898 die Grundlage für das spätere Anwachsen bis zur heutigen Stadt.
Früh um neun Uhr ist das Gedränge auf dem Tomsker Bahnhof groß. Der Altersdurchschnitt liegt deutlich über 60 Jahre, Pensionäre und Babuschkas sind bepackt mit Taschen, Rucksäcken und Baumaterialien. Sie alle warten auf den in wenigen Minuten eintreffenden Vorortzug der sie zu ihren Datschen entlang der Strecke bringen soll.
Als die Elektritschka, wie der Zug umgangssprachlich genannt wird, quietschend am Bahnsteig zum stehen kommt, beginnt sofort der Kampf um die wenigen Sitzgelegenheit. Auch weniger rüstig wirkenden Rentner, bis eben noch im Plausch miteinander, entwickeln erstaunliches Geschick und Agilität, wenn es um die bequemsten Plätze geht. Doch wurde beim Einsteigen noch bedingungslos gedrängelt, wird drinnen wieder herzlich gelacht und getratscht. Der ganze Zug scheint sich zu kennen, die Schaffnerinnen und die Snackverkäuferin werden mit Namen, die nach dem rechten schauenden Polizisten mit Handschlag begrüßt.
Mehr als zwei Stunden zuckelt die Bahn durch die Wälder, um das etwa 80 Kilometer entfernte Städtchen Taiga zu erreichen. Auf dem Weg dorthin hält die Elektritschka zahllose Male, in den meisten Fällen sind die Haltestellen nur nach dem jeweiligen Streckenkilometer benannt. Oftmals ist die Bahn die einzige praktikable Verbindung in die Siedlungen, sodass sich der Zug zuzunehmend leert. Am Zielort angekommen, steigen nur noch ein paar Dutzend Fahrgäste aus.
Merkwürdige Tradition: Frisch Vermählte werfen eine Flasche gegen das Ortseingangsdenkmal von Taiga. Geht diese zu Bruch, verspricht das gemäß dem Brauch Glück in der Ehe. Die zahlreichen herumliegenden intakten Flaschen weisen somit auf viele scheiternde Bündnisse hin.
Der Ort Taiga existiert nur, weil sich beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn die Tomsker Obrigkeiten gegen einen Anschluss an diese wehrten. So wurde vor über hundert Jahren die Trasse weiter südlich, an Tomsk vorbei, angelegt. Als man wenig später aber die Wichtigkeit der Eisenbahn erkannte, wurde nachträglich doch ein Anschlussgleis gelegt. An der Stelle, an der beide Strecken aufeinander trafen wurde Mitte der 1890er Jahre ein Ausbesserungswerk und ein kleiner Bahnhof errichtet – der Beginn von Taiga. Nach und nach wuchs die Siedlung, die sich zuerst nur südlich des Knotenpunkts befand. Heute leben etwas mehr als 20.000 Menschen in Taiga, wobei nach wie vor die Eisenbahndepots die mit Abstand wichtigsten Arbeitgeber vor Ort sind. Denn mit dem Ende der Sowjetunion schlossen alle anderen Großbetriebe, wie die örtliche Großbäckerei oder das Nudelfabrik, deren Ruinen vor sich hin rotten.
Ich hatte das Glück, dass sich Couchsurferin Alena einen ganzen Nachmittag Zeit nahm, mich durch den Ort zu führen. Sie wuchs in Taiga auf, erst in der Holzhaussiedlung im Süden, später dann im sowjetisch geprägten nördlichen Teil. Die Transsib-Gleise teilen den Ort fast unüberwindlich, am Bahnhof gibt es zwar eine Fußgängerbrücke aber erst seit einigen Jahren führt auch eine Straßenbrücke über die Trasse. Alenas Eltern arbeiten natürlich auch bei der Eisenbahn. Auch sie sollte ihnen folgen und die landesweit prestigeträchtige Taigaer Hochschule für Eisenbahntechnik besuchen. Doch Alena entschied sich aber dagegen und arbeitet nun im internationalen Büro der Tomsker Polytechnischen Hochschule – was mir eine hervorragend englisch sprechende Stadtführerin beschert. Zudem organisierte sie Dmitrij, einen Freund der Familie der zur Stadtgeschichte forscht und sein breites Wissen ausgiebig mit uns teilte. Er machte es auch möglich, dass wir trotz Ruhetag das kleine Stadtmuseum besichtigen konten, wo es sich Dmitrij nicht nehmen lies, uns dutzende alte Aufnahmen aus Taiga zu zeigen. Auch die aufgeregten Anrufe seiner Frau, dass Dmitrij schleunigst nach Hause kommen solle, brachte ihn nicht von seinen Erzählungen ab: „Wir sind jetzt über dreißig Jahre verheiratet, da kann sie mal ein bisschen warten.“
Kirche des Heilgen Andreas von Kreta, Taigas ältestes Gotteshaus. Es wurde 1905 erbaut, also knapp 10 Jahre nach der Gründung des Ortes im Jahr 1896.
Dass Taiga überschaubar ist, zeigte sich nicht nur darin, dass während unserer Tour durch die Stadt Dmitrij fortwährend gegrüßt wurde, sondern auch folgende Anekdote: Nachdem mich Alena am Bahnhof abgeholt hatte, wollten wir eine Kleinigkeit essen gehen. Die Wahl bestand zwischen einem Sushi-Restaurant und einer Stolowaja – beide unter einem Dach, dem der Walujew-Box-Schule. Der auch in Deutschland bekannte Profiboxer unterhält nämlich in Taiga eine seiner Filialen, wobei Dmitirij später stolz von seiner Begegnung mit dem 2,13-Meter-Hühnen bei der Eröffnung erzählte.
Schlussendlich entschied ich mich für das einheimische Lokal. Nach kurzem Rütteln an der Tür mussten wir allerdings feststellen, dass dieses an Wochenenden geschlossen hatte und wir somit wohl oder übel auf das Sushi-Restaurant zurückgreifen mussten. Dort gab es glücklicherweise nicht nur rohen Fisch, sondern auch sämtliche Speisen angesiedelt zwischen Schnitzel, Chili con Carne und Pizza. Nach der Stadtführung, mittlerweile war es früher Abend, wollten wir abermals essen gehen – die einzige Möglichkeit war bereits bekannt. Sichtlich amüsiert begrüßte uns dort die selbe Bedienung wie beim Mittagessen mit „guten Tag, abermals!“
Letztendlich verweilte ich etwas mehr als zehn Stunden in Taiga, ehe ich mit einem der letzten Nachtzüge zurück nach Krasnojarsk fuhr. Vor meiner Ankunft dachte ich noch, dass die eingeplante Zeit deutlich zu viel sein wird. Doch dank Alena und Dmitrij hatte ich einen äußerst interessanten und kurzweiligen Tag in einer Stadt, die durchschnittlicher nicht sein könnte – gleichwohl sie keine nach Lenin benannte Straße hat.
Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Kämpfer aus Taiga
Der ältere Stadtteil im Süden des Bahnhofs
Der südliche Teil Taigas ist seit jeher durch Holzhäuser geprägt und wirkt eher dörflich.
Darf natürlich auch in Taiga nicht fehlen: Die Lenin-Statue, hier vor der Gebietsadministration im sowjetisch geprägten nördlichen Teil der Stadt. Das Gebäude ist bereits für den kommenden „Tag des Sieges“ am 9. Mai geschmückt.
„Die Stadt Taiga begrüßt Sie!“
„Awtodrajw“: Der Fantasienamen aus Auto und Drive soll wohl Kundschaft in das Geschäft für Autozubehör locken, mit bescheidenem Erfolg.
Denkmal für die Taigaer, die der „Strahlung von Nuklear- und Technologiekatastrophen ausgesetzt waren“. Bemerkenswert ist hierbei vor allem die Pluralform, wie aber die zahlreichen Blumen am Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl zeigen (das Foto wurde am 26. April aufgenommen), wird das Monument vor allem als Erinnerung an die Liquidatoren wahrgenommen.