Anlauf nehmen, beherzt springen, nach links ausweichen und fortwährend die heranfahrenden Autos im Blick haben. Die Überquerung der meisten Straßen wurde in Nowosibirsk wegen zwei Faktoren zum Jump ’n’ Run im realen Leben: Dank etlicher Plusgrade und dem dadurch verursachten Schmelzen der Schneemaßen verwandelten sich diese und noch viel mehr die zerbröckelten Gehwege in Landschaften, die der Mecklenburger Seenplatte aus der Luft glichen. Zugleich galt es bei Überquerungen der Sturzbäche, Teiche und Schlammbäder die Beine in die Hände zu nehmen. Sind doch die Grünphasen selbst für Olympiasprinter herausfordernd.
Trotz dessen ich zwangsläufig kontinuierlich nach unten schaute, um das nächste feucht-matschige Hindernis umgehen zu können, fand ich mich sofort wieder in der „Hauptstadt Sibiriens“ zurecht. War doch Nowosibirsk vor fast sechs Jahren der erste Ort Russlands, den ich besuchte (beziehungsweise damals auf Einladung des Goethe-Instituts besuchen durfte). Nach wie vor ist der zentrale Leninplatz von Skatern (und mittlerweile auch fast ebenso vielen Skateboardfahrerinnen) in Beschlag genommen. Diese unkonventionelle Aneignung des öffentlichen Raums machte die Millionenstadt schon damals sympathisch. Die herumstehenden Polizisten störte das Treiben nicht im geringsten, im Gegenteil schauten sie dem Spektakel gerne zu, wurde doch dadurch ihre ereignisarme Schicht etwas erbaulicher.
In unmittelbarer Nähe zum Leninplatz wohnte auch mein Couchsurfing-Host Christian: Ein US-amerikanischer Programmierer, der mit Hilfe eines dreijährigen (!) Touristenvisums dem Stress im Silicon Valley entfloh – und nun im russischen Pendant, Nowosibirsk wird aufgrund des angrenzenden Forschungsstandorts Akademgorodok auch Silicon Taiga genannt, auch irgendwie auf Brautschau ist.
Nach einer gemeinsamen Tasse Tee zur Begrüßung machten wir uns auf zu einer ausgiebigen Stadttour, per pedes und mit der einzigen Metro Sibiriens: Zentraler Markt (weit weniger aufregend als im Reiseführer beschrieben), Denkmalkomplex für den Großen Vaterländischen Krieg (beziehungsweise riesiger Abenteuerspielplatz für Kinder), ein altes Café mit original sowjetischer Einrichtung (wo wir Pelmeni und Pyschki, russischen „Donuts“ serviert mit Smetana, probierten) und zum Abschluss die Uferpromenade am Ob’.
Vom brasilianischen Psychotherapeuten des örtlichen Fußballclubs, dem libanesischen Businessmann oder dem französischen Sprachlehrer bis hin zu zahlreichen Studierenden der Sibirischen Staatlichen Universität und ihrer Ableger war ich die Ausnahme von der Regel: Ich wohne nicht in Nowosibirsk.
Für den Abend lud Christian etliche lokale Couchsurfer und Ausländer zum Umtrunk in seine riesige Wohnung ein. Bei Rotwein, Käse und Chips wurde schnell klar: Noch wichtiger als Sprachkenntnisse ist in Russland nur das beherrschen von Durak. Denn das Kartenspiel, übersetzt „Dummkopf“, wird hier (und einigen Nachbarländern) von wirklich allen gespielt, von Kindern auf dem Spielplatz, über Erwachsene auf der Datscha bis hin zu den Alkoholikern auf der Straße.