Blick vom Titow-Hügel mit der Alexander-Newskij-Kapelle auf die Stadt
Die Zugfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Birobidschan nach Tschita dauert gut 40 Stunden. Viel Zeit zum Entspannen und um aus dem Fenster ins Grüne zu schauen. Bereits beim Einsteigen bemerke ich den hohen Anteil junger Männer in meinem Waggon. Schnell stellt sich heraus, dass die noch halben Teenager ihren einjährigen Dienst in der russischen Armee hinter sich haben und nun freudestrahlend mit der Transsib in ihre Heimatorte entlang der Strecke fahren – was durchaus etliche Tage dauern kann, denn der Zug fährt bis Moskau.
Ich bin damit der einzige „Zivilist“ unter ihnen und mutmaße, dass wohl eigentlich den Ex-Soldaten der ganze Waggon zustehen sollte. Da ich aber bereits am frühestmöglichen Tag mein Ticket buchte, mussten die ausgehenden Armisten um mich herum Platz nehmen. Beiderseitig beäugen wir uns neugierig, die lange Zeitdauer die wir wohl oder übel miteinander verbringen müssen schafft beiderseitiges Vertrauen. So wird mir zum Essen immer ein Platz am Tisch gewährt. Ansonsten verziehe ich mich auf mein oberes Bett, um meine Ruhe zu haben.
Rechts ist der Zuglauf Nowosibirsk–Wladiwostok, links Erde–Himmel. Das gibt es wohl nur in Russland: Eine mobile Kirche, untergebracht in einem Eisenbahnwaggon.
Von meinem Aussichtspunkt beobachte ich das Treiben der kaum 18 Jahre alt wirkenden Burschen: Da gibt es die Mehrheit der Schläfer, die permanent in ihr weißes Bettlaken gehüllt auf der Pritsche liegen und nur zum Aufbrühen ihrer Fünf-Minuten-Terrine zum Samowar trotten. Dann gibt es eine kleine, aber merkliche Minderheit der Bastler, die ihre ergaunerten Armeehemden säuberlich mit meist weißen Schnüren, gesammelten Orden oder Rangabzeichen verschönern, um damit vor versammelter Verwandtschaft bei der Ankunft besonders Eindruck zu schinden. Und da sind einige Partylöwen weiter hinten im Abteil, die in ihren klassischen weiß-blau-quer-gestreifeten Telnjaschkas und adretten Baretts entweder zum Bordradio oder ihren Handys singen und trinken.
Letzteres ist zwar offiziell verboten, wie mir einer der regelmäßig durch die Wagen patrouillierenden Polizisten deutlich macht, als ich eine noch geschlossene (!) Bierdose trinkbereit neben mir stehen habe. Aus den Augen, werden aber die Wodka- und Bierflaschen durch die Abteile gereicht, als wäre es das normalste auf der Welt. Ich verstecke mein Bier hinter einem aufgeschlagenem Buch, dass ich vorgebe zu lesen. Not macht erfinderisch, das gilt insbesondere in Russland und noch mehr beim Umgehen unliebsamer Gesetze.
Der Bahnhof von Tschita. Im Hintergrund die Kathedrale der Kasaner Gottesmutter
Irgendwie passt es bei der Reisegesellschaft wie die Faust aufs Auge, dass Tschita aufgrund des dort ansässigen Militärs landesweit bekannt ist. So beherbergt die Hauptstadt der Region Transbaikalien das Oberkommando des Militärbezirks Sibirien. Laut Reiseführer sollen in der 325.000 Einwohner-Stadt deshalb Armeeangehörige besonders auffallen, doch bei meiner Ankunft am Sonntagmorgen ist davon nicht viel zu merken. Eigentlich fällt nur auf, dass die Stadt fast menschenleer ist sobald ich den Trubel des angekommenen Zuges am Bahnhof hinter mir lasse.
Anders als zuvor habe ich mich für die kurze Zeit in Tschita für ein Hotelzimmer und gegen einen Couchsurfing-Host entschieden. Hauptkriterien für die Wahl der Unterkunft waren dabei ein günstiger Preis, zentrale Lage und W-LAN. Die Schnittmenge dieser Bedingungen ist ein Neubau im Zentrum in unmittelbarer Nachbarschaft zum Leninplatz. Für mich weniger störend sind die Gemeinschaftsduschen und -toilette (Singular ist hierbei bewusst gewählt). Geschenkt auch, dass sich das gesamte Hotel im Keller befindet und damit über keinerlei Fenster verfügt. Immerhin ist alles neu, das Bett ist weich und jedes Zimmer ist sogar mit einem Flachbildschirm ausgestattet. So kann ich mich nebenbei vom russischen Propaganda-TV hier unten im Hotelbunker berieseln lassen, während dieser Beitrag entsteht. Obendrein hat das Zimmer auch so viele Steckdosen, um die Akkus aller unterwegs gebrauchten technischen Geräte wieder aufladen zu können. Auch mir blieb genügend Zeit neue Energie zu tanken, denn das Wetter lädt nur zu einem kurzen Spaziergang durch die – zugegebenermaßen recht unspannend wirkende – Stadt ein.