Ich saß im Zug in Richtung Ostsee, als ich eine SMS bekomme. Vorausgegangen war die spontane Entscheidung nach Klaipėda und die Kurische Nehrung aufzubrechen. Für großartige Planung blieb somit keine Zeit, so schrieb ich nur eine kurze Nachricht in die örtliche Couchsurfing-Gruppe und bat um eine Schlafgelegenheit – ehrlich gesagt rechnete ich mit keiner Antwort und notierte mir sicherheitshalber die Adresse eines örtlichen Hostels.
Doch zu meiner Überraschung erhielt ich ja die erwähnte Nachricht. Mehr als einen Namen, Romualdas, und eine kurze Beschreibung wie ich zu ihm gelangen könnte, hatte ich nicht in der Hand. Aber ich war froh, dass sich überhaupt jemand gemeldet hatte. Guter Dinge entstieg ich dem Zug in der Hafenstadt, meine Laune wurde umso besser, als ich den Wohnort meines Hosts auf einer Straßenkarte ausmachen konnte: Denn er sollte nur rund 100 Meter vom Ostseestrand entfernt wohnen.
Ich machte mich also auf die Socken. Nach kurzer Busfahrt und Suche stand ich vor dem kleinen Haus in einer schmucken, ehemaligen, Fischersiedlung am Rand der drittgrößten litauischen Stadt. Ein Anklopfen erübrigte sich, da ich mich Romualdas schon kommen gesehen hatte und mich direkt hinein bat. Was ich angesichts der Wohnlage im Seebad Melnragė schon vermutet hatte, bestätigte sich auch: Mein Host für die nächsten zwei Tage war ein pensionierter älterer Herr, der mich von Anbeginn mit seiner unglaublichen Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft für sich uns seine vielen kommenden Geschichten einnahm.
Kaum hatte ich meinen Rucksack abgestellt, setzte der 61-jährige bereits Tee für mich auf und bereitete frische Bliny zu. „Ein guter Start“, dachte ich mir, aber es wurde noch weitaus interessanter. Denn sein bisheriges Leben war, wie er mir rauchend am kleinen Küchentisch sitzend erzählte, äußerst abwechslungsreich und abenteuerlich. Im Alter von 10 Jahren zog er nach Klaipėda und fing dort bereits früh an sich für das Hafenleben- und treiben zu interessieren. Daher rührte ebenfalls sein gutes Englisch, indem wir uns unterhielten.
Dem Wehrdienst in der Roten Armee verweigerte sich dann als Erwachsener, woraufhin er für zwei Jahre nach Jekaterinburg ins Arbeitslager musste. Das hielt ihn aber nicht davon ab weiter seinen Weg zu gehen, der oft eher weniger systemkonform (unter der damaligen Sichtweise) war, so handelte er unter anderem mit geschmuggelten Jeans.
Später arbeitete er dann wieder im Klaipėdaer Hafen und freundete sich mit den Besatzungsmitgliedern der vielen internationalen Schiffe an, was Vorteile in Form des Austausches von „Mangelerzeugnissen“ für beide Seiten versprach – inklusive guter Weiterverkaufsmöglichkeiten im Sowjetraum. Als wichtigste „Zweitwährung“ galt aber trotzdem und vor allem mit den „Russen“ immer die Flasche Wodka, wie mir Romualdas berichtete.
Vor allem die „Berufstrinker“ hatten ihr Zeichen, wenn sie bereits am frühen Morgen auf Mittrinker vor dem Konsum warteten – Standardregel 3 Männer, einer Flasche: Mit einem Fingerzeig deuteten sie an, ob sie noch ein oder zwei Mittrinker für den Kauf der Wodkabulle benötigten, um sich den Kaufpreis und die Geselligkeit zu teilen.
Mitte der 80er Jahre verschlug es Romualdas dann auch in den Kaukasus und nach Zentralasien. Über einen Freund bekam er die Möglichkeit Rinder von Litauen aus in andere, meist entfernte Regionen der UdSSR mit der Eisenbahn zu transportieren und diese während der oft wochenlangen Fahrt zu verpflegen. Als abenteuer- und reiselustiger Gefährte konnte er da natürlich nicht nein sagen.
Alles hat seinen Plan: Kalender mit den Couchsurfing-Gästen
Und so erlebte er ebenfalls die Menschen in der Georgischen Sowjetrepublik, welche sich – gemessen an der Gastfreundschaft, Feiertätigkeit und der Speisen –in keiner Hinsicht verändert hatten, wie wir nach einigen Erzählungen übereinstimmend feststellten. Um auch im höheren Alter noch aktiv zu sein und mit anderen Reisenden in Kontakt zu treten, meldete sich Romualdas bei Couchsurfing an. Er modernisierte extra sein Häuschen ein wenig und hält nun täglich im Internet nach möglichen Gästen Ausschau. So kam auch ich zu meinem Glück und den bisher spannendsten Geschichten meines doch schon recht langen Couchsurfing-Daseins. Ačiū Romualdas!