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In der Grauen Zone: Wie die Menschen in der Ost-Ukraine den jahrelangen Krieg erleben

Ein Großvater hält seine Enkeltochter in Stanyzja Luhanska im Arm. Am Tor zu sehen: zahlreiche Einschusslöcher.

Ein Großvater hält seine Enkeltochter in Stanyzja Luhanska im Arm. Am Tor zu sehen: zahlreiche Einschusslöcher.

Von Kiew bis in den Krieg sind es zehn Stunden. Dazwischen liegen ein halbes Dutzend Checkpoints und lange Straßen, die stetig schmaler und deren Schlaglöcher immer tiefer werden.

Im Osten der Ukraine herrscht Krieg. Seit dem Frühjahr 2014 bekämpft die ukrainische Armee im Donbas die von Russland massiv mit Waffen, Wissen und Soldaten unterstützten Separatisten. Die Region mit seinen zwei Metropolen Donezk und Luhansk war der industrielle Stolz der Sowjetunion. Trotz des wirtschaftlichen Niedergangs war der Donbas auch in der unabhängig gewordenen Ukraine das wichtigste Industriezentrum des Landes. Bis das Jahr 2014 alles veränderte.

Zwar sind die Folgen bis heute auf der weltpolitischen Bühne spürbar, jedoch scheint der Krieg in der Ostukraine mittlerweile weit weg. Bei vielen Menschen in Europa ist er sogar fast vergessen. Vor Ort, bei Gesprächen mit Bewohnern, Geflüchteten und Helfern, wird allerdings klar, warum der seit seit vier Jahren andauernde militärische Konflikt auch in Berlin, Paris oder London Beachtung finden sollte.
Ukrainian Checkpoint near Shchastya

Ein Kontrollpunkt ukrainischer Einheiten bei Schtschastja.

Die Graue Zone

Hinauf zu Elenas Haus führt ein matschiger Weg, aufgeweicht durch den immer wieder einsetzenden Sommerregen. Die Oberschullehrerin zeigt den Gästen stolz ihren Garten. Obstbäume rechts, abgesteckte Felder und Gewächshäuser links.

Elena wohnt mit ihrem Mann am Rand von Solote, einem Ort in der sogenannten Grauen Zone. Diese bezeichnet die Gebiete in unmittelbarer Nähe zur Frontlinie, die formal unter ukrainischer Kontrolle stehen. Faktisch sind es aber mitunter Positionen beider Armeen. So auch in Solote, dessen südlicher Teil von den Separatisten kontrolliert wird.

Vor dem Ausbruch des Krieges wohnten in der Bergarbeiterstadt 14.000 Menschen. Heute sind es laut den verbliebenen Bewohnern nur noch um die 5000. Der Grund liegt in der Luft: Tack, tack, tack. Und wieder tack, tack, tack. Es sind die Geräusche von Salven, die plötzlich durch Elenas Garten hallen. Die Besucher zucken zusammen. Doch die 52-Jährige weiß: Die Schüsse sind viel zu weit weg, um eine Gefahr zu sein. Diesmal zumindest.

Denn in der Grauen Zone schlagen fortwährend Geschosse ein, mitunter kommt es zu 80 Explosionen allein an einem Tag, . Dabei sterben auch immer wieder Zivilisten. Erst am Freitagmorgen schlugen Geschosse in ein Haus in der Siedlung Wrubiwka ganz in der Nähe von Solote ein und töteten einen 34-jährigen Mann. Es ist trauriger Alltag: Laut UN sind seit dem Ausbruch des Krieges bereits über 3000 Zivilisten ums Leben gekommen.
Zolote

Das Zentrum von Solote.

“Ein abnormaler, unlogischer Krieg”

“Der Konflikt ist nicht eingefroren, die Kampfhandlungen halten nach wie vor an, sie sind mal mehr mal weniger aktiv”, sagt Wjatscheslaw Lichatschew. Der russische Historiker und Politikwissenschaftler dokumentiert im Donbas Menschenrechtsverletzungen für die ukrainische NGO Vostok SOS und ist ständig in der Region unterwegs.

Auch die OSZE teilte auf Anfrage mit, dass sie die Situation weiterhin für “unberechenbar und unbeständig” hält. Lichatschew sagt: Geschossen wird täglich. Aber die Positionen hätten sich in den letzten drei Jahren stabilisiert und die Kontaktlinie, sprich die Front, habe sich seitdem nicht verschoben. Aus Sicht von Lichatschew ist es daher “ein abnormaler, unlogischer Krieg: Es gibt Kampfhandlungen, aber kein greifbares militärisches Ziel”.

Trotzdem: Diese Kriegsführung hat verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Es gibt keine Sicherheit und es herrscht ”eine schreckliche wirtschaftliche Situation”, wie der 39-Jährige sagt. “Die humanitäre Situation ist sowohl im Oblast (zu Deutsch Gebiet) Donezk als auch in Luhansk schlecht.”

Bewohner von Schtschastja bei der Verteilung von Hilfspaketen.

Denn die Frontlinie zerschneidet die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Verbindungen. Nachbarorte liegen nun teils in zwei verschiedenen Welten – auf der einen Seite die von Separatisten, russischen Soldaten und ausländischen Söldnern besetzten Gebiete und auf der anderen Seite die von der ukrainischen Armee kontrollierten Bereiche. Sperranlagen blockieren die großen Verbindungsstraßen. Einstmals nahe Orte sind heute nur noch über stundenlange Umwege erreichbar.

In ihrer schriftlichen Einschätzung hebt die OSZE dieses Problem “besonders hervor”. Darin heißt es:

“Da nur ein einziger offizieller Einreise- und Ausreisekontrollpunkt die gesamte Region Luhansk bedient und Minen und Blindgänger über die gesamte Länge der Kontaktlinie verteilt sind, haben die Bewohner (…) Schwierigkeiten beim Zugang zu Gebieten, die nicht unter staatlicher (ukrainischer, Anm. d. Red.) Kontrolle stehen. Das führte dazu, dass Familien und Freunde voneinander getrennt, Handelsmuster unterbrochen wurden und Arbeitsplätze wegfielen sowie manchmal sogar Leben verloren gingen.”

Auch Lichatschew verweist auf diese Problematik. “All diese Verbindungen sind schlagartig weggebrochen. In den Gebieten, die von der ukrainischen Armee befreit wurden, gibt es noch keine Ersatzstrukturen.” Die Folge: Tausende Menschen pendeln über die Frontlinie, tagtäglich.
Stanytsia Luhanska

Hunderte Menschen warten am einzigen Ein- und Ausreisepunkt zur selbsternannten Volksrepublik Luhansk – einer zerstörten und umfunktionierten Tankstelle in Stanyzja Luhanska.

Wenn Freunde zu Feinden werden

Die verheerenden Auswirkungen werden in Schtschastja besonders deutlich. Nur der Fluss Siwerskyj Donez trennt den Ort von der selbsternannten Volksrepublik Luhansk der Separatisten.

Bis 2014 brauchte man von Schtschastja nur etwas mehr als eine Viertelstunde zur Oblast-Hauptstadt Luhansk. Heute sind es allein bis zum einzigen Ein- und Ausreisekontrollpunkt in der Frontstadt Stanyzja Luhanska mindestens drei Stunden. Dazu kommen noch mehrere Stunden Wartezeit. Laut Beobachtern überqueren täglich etwa 7000 bis 8000 Leute diesen Kontrollpunkt. In Hochphasen können es durchaus doppelt so viele sein. Die Menschen heben Geld in der Ukraine ab und kaufen dort ein. In der Volksrepublik Luhansk sind die Preise in etwa doppelt so hoch.

Viele der dort wohnenden Städter haben ihre Ferienhäuser und Gärten in Schtschastja oder anderen Orten auf der ukrainisch kontrollierten Seite. Vor allem Rentner verbringen mitunter den ganzen Sommer im Grünen. Auch der Krieg konnte diese Gewohnheiten nicht unterbrechen. Doch die Spaltung, die durch die Ost-Ukraine geht, setzt sich innerhalb der Bevölkerung fort. Nachbarn misstrauen sich, einstige Freunde sind zu politischen Gegnern geworden. Die alles entscheidende Frage: Hält man eher zur Ukraine oder zu Russland. Kiew oder Moskau. Blau-gelb hier, weiß-blau-rot dort.

Bewohner einer Ferienhaus-Siedlung (Datschen-Siedlung) in Schtschastja bei der Vergabe von humanitären Hilfspaketen.

Ekaterina Sirik hat die Anfeindungen selbst gespürt. In einem Café im Zentrum der neuen – weil von der ukrainischen Zentralregierung verlegten – Oblast-Hauptstadt Sjewjerodonezk erzählt sie ihre Geschichte.

Während des Euromaidans in Kiew nahm die Pädagogin und Kultur-Aktivistin an pro-ukrainischen Kundgebungen in ihrer Heimatstadt Luhansk teil. Viele Leute hätten sich damals nicht an den Maidan-Demonstrationen beteiligt, erzählt die 31-Jährige. “Die Menschen im Donbas wollten nur ihr Leben leben.” Die meisten hätten kein Problem mit Russland gehabt. Sirik sagt selbst: “Russland ist unser Blut.” Wohl auch deshalb seien viele Luhansker “wie Schäfchen den pro-russischen Separatisten hinterhergelaufen”.

In der Stadt blieb Sirik, die damals in einem Krankenhaus arbeitete, nur bis zum Juli 2014. Sie war kurz davor, mit anderen Aktivisten ein selbstverwaltetes Kulturzentrum zu eröffnen – dazu sollte es aber nie kommen. “Viele Freunde wurden gefangen genommen, einige gefoltert. Ich blieb trotzdem in Luhansk – bis mir Freunde sagten, dass auch nach mir gesucht wird.”

Ekaterina Sirik.

“Das östliche Ende von Europa brennt”

Von einem Moment auf den anderen habe sie sich entschlossen zu fliehen, sagt Sirik. Raus aus Luhansk. Raus aus dem Donbas. In fünf Taschen stopfte sie ihr Leben – und Dinge, dir ihr etwas bedeuteten: eine Blumenpresse, ihre Schlüssel-Sammlung, die Lieblingstasse, Fotos und Spielsachen für ihren Sohn. “Als ich nach einer endlosen Odyssee in Kiew ankam, hatte ich nur ein T-Shirt, eine Jeans und einen Rucksack voller Sachen für andere Leute.”

Ihre Eltern kamen im Herbst 2014 nach. Mit ihnen zusammen wohnt sie nun in Sjewjerodonezk, 70 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. “Die Stadt steht bei Punkt Null”, klagt Sirik. Sie meint das kulturelle Leben in Sjewjerodonezk, das weitestgehend brach liegt. Mit ein paar anderen Enthusiasten will sie nun der Großstadt trotzdem etwas Leben einhauchen. Eine Schnitzeljagd zu den wenigen geschichtlichen Orten der erst in den 1930er Jahren von den Sowjets aus dem Boden gestampften Planstadt hat Sirik bereits organisiert. Ausstellungen und Open-Air-Filmabende sollen folgen.

Nach ihrer Flucht war sie – trotz der Gefahren – noch einmal in Luhansk. Eine Woche lang, vor drei Jahren. Bis auf zwei waren all ihre Freunde nicht mehr da. “Es war unglaublich, meine Erinnerungen waren in der Realität gefangen. So als wäre die Zeit mehr als 15 Jahre zurückgedreht”, erinnert sich Sirik. Die Stadt, die ganze Region lag in Trümmern. Viele hätten resigniert. Ihr sei dann erst richtig klargeworden: “Das östliche Ende von Europa brennt.”
Toshkivka

Die zerstörte Turnhalle einer weiterführenden Schule in Toschkiwka.

Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab

Anlaufpunkt für viele Luhansker ist Sjewjerodonezk. Die ukrainische Regierung hat die komplette Oblastverwaltung aus dem besetzten Luhansk in den gut 70 Kilometer entfernten Ort verlegt. Ebenso zogen die Ostukrainische Universität, Ausbildungsbetriebe der Polizei und etliche mittelständische Unternehmen um. Außerdem sind in der Großstadt 30.000 bis 40.000 Binnenflüchtlinge untergekommen. Sie machen heute etwa ein Viertel aller Einwohner aus.

“Der Strom der Flüchtlinge aus den besetzen Gebieten reißt auch nach vier Jahren nicht ab”, sagt die Menschenrechtsaktivistin Marija Guljaewa. Sie leitet das Büro von Vostok SOS in Sjewjerodonezk, das unter anderem auch eine Rechtsberatungs-Hotline für Binnenflüchtlinge und die Bewohner der Region betreibt. Guljaewa bemerkt: “Es ziehen aber auch Menschen zurück in die besetzten Gebiete, weil sie einfach keine Arbeit finden und mit dem Geld nicht klarkommen.”

Marija Guljaewa, Leiterin des Büros von Vostok SOS in Sjewjerodonezk.

Keine Registrierung, keine Rente

Insgesamt seien ihr zufolge über 200.000 Menschen in der Stadt gemeldet. “Viele Rentner aus den besetzten Gebieten sind hier registriert, um Rente beziehen zu können.” Wer Hilfe und Unterstützung bekommen will, muss in den von Kiew kontrollierten Gebieten gemeldet sein. Der Druck auf das örtliche Sozialsystem habe deshalb zugenommen. “Zwar hat die Stadtverwaltung nun mehr Personal, aber das ist überlastet“, sagt die 36-Jährige. Zugenommen habe aber insbesondere die Korruption.

“Es ist ein Riesenproblem und in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Die Tarife sind höher als in Kiew”, schimpft Guljaewa. “Es gibt Gebühren, bei denen niemand weiß, von wem sie kontrolliert werden. Das kommt einer Sabotage unserer Aktivitäten gleich.” Laut der OSZE kämpft die Stadt vor allem “mit der Anpassung an ein unsicheres Umfeld und der wirtschaftlichen Stagnation infolge des Konflikts”.

In Sjewjerodonezk hängt vieles an der örtlichen Chemiefabrik. “Ein Großteil der Bevölkerung war und ist von dem Werk abhängig”, sagt Guljaewa. Bis zum Ausbruch des Krieges seien allein dort 7000 Menschen beschäftigt gewesen. Doch bis Mitte Juli lief das Werk nur noch im Notbetrieb, Tausende Arbeiter seien entlassen worden. Und die, die blieben, hätten nur noch ein Drittel ihres Lohnes bekommen, berichtet Guljaewa, deren Mann in der Fabrik arbeitet.
Sievierodonetsk

Im Zentrum von Sjewjerodonezk, im Hintergrund: die Chemiefabrik.

Immerhin: Nachdem der Betrieb wieder angelaufen ist, hoffen sie und die Bewohner auf einen Aufschwung. 4000 Menschen sollen mittlerweile wieder im Chemiewerk arbeiten.

Mit Blick auf die vielen Binnenflüchtlinge sagt Guljaewa: “Die Stadt hat im Grunde gewonnen.” Junge Leute, wie Kulturaktivistin Sirik, hätten Schwung in den Ort gebracht – “und viele Sjewjerodonezker haben sich mitreißen lassen”.

Dieser Text erschien am 25.08.2018 in der HuffPost Deutschland.

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