Nur etwas mehr als 60 Kilometer Luftlinie trennen Chişinău von Tiraspol – erstere ist die Hauptstadt der Republik Moldau (oder Moldawien), dem führenden Land der Östlichen Partnerschaft der EU, zweiteres ist das Gegenstück im international nicht anerkannten Staat Transnistrien. Bereits dieser Name macht die Lage des kleinen Landstreifens deutlich, nämlich zwischen dem Fluss Dnjestr im Westen und der Ukraine im Osten.
Vergleichbar mit anderen selbst ernannten Staaten im postsowjetischen Raum, wie Nagorno-Karabach oder Abchasien, wurde Transnistrien nach einem Unabhängigkeitskrieg Anfang der 1990er Jahre, der allerdings weit weniger blutig ablief, de-facto unabhängig. Ein weiterer Unterschied ist, dass die dortige Bevölkerung sich multiethnisch zusammensetzt aus jeweils rund einem Drittel Moldauern, Ukrainern und Russen. Entgegen dieser Zahlen ist Russisch sowohl die Haupt-Amtssprache wie auch dominante Lingua franca.
Einreise in den selbsternannten Staat
Diese Tatsache wird besonders schnell ersichtlich, wenn man mit dem Auto – oder wie ich mit der Marschrutka – einreist. So ist der „Talon“, das postkartengroße Einreiseformular, auf russisch (allerdings gab es für die handvoll Besucher überraschenderweise auch eine englische Version), alle Straßenschilder sowie Wegweiser sind auf Russisch und auch die – nur dort umtauschbare – Währung ist die gleiche, wenn auch mit leicht anderem Namen: Transnistrischer Rubel.
Bereits in Bender, das direkt hinter der imaginären Grenze liegt, ist die starke russische Präsenz – und Präferenz – zu erkennen. Nicht nur, dass russische (und ukrainische) Friedenstruppen die Brücke über den Dnjestr bewachen und jegliche Bewegung in der zweitgrößten Stadt Transnistriens aufmerksam beobachten, auch entdeckte ich an einer Mauer ein spezielles Graffiti in mannshohen blauen Lettern: „Russland – Garant für Frieden und Stabilität“, in russischer Sprache natürlich.
Putin is watching you
Doch das eindrucksvollste und zugleich seltsamste Bild dieser russischen Unterstützung war das Büro von „Jedinaja Rossija“ („Einiges Russland“) in der Hauptstadt Tiraspol nur wenige Autominuten später. Zudem konnte ich überall Poster von vergangenen russischen Wahlen sehen, die dazu ermuntern sollten für Wladimir Putin zu stimmen. Der Hintergrund ist, dass viele transnistrische Bürger einen russischen Pass besitzen und damit wahlberechtigt sind. Und ohne die starke Unterstützung durch und die Beziehungen zu Russland wäre Transnistrien vermutlich verloren.
Die erste große Überraschung nach der, für mich ziemlich leicht passierbaren, „Grenze“ ist Tiraspol. Im Gegensatz zu den meisten Geschichten, die ich im Internet gelesen hatte, wirkte die Stadt auf mich gleich irgendwie sympathisch: sauber und grün, mit wenig Verkehr und insgesamt auch wenig Polizisten. Man konnte sich hier leicht wohlfühlen – und das nicht nur wegen der günstigsten Preise für harten Alkohol die ich bis dahin gesehen hatte. Nur die klaren Reminiszenzen an die sowjetische Vergangenheit, wie riesige Banner in den „nationalen“ Farben rot und grün, roten Sternen oder Lenin-Statuen in den Straßen, machten deutlich, dass ich mich an einem besonderen Ort und nicht in der Republik Moldau oder der benachbarten Ukraine aufhielt.
Entlang der „Straße des 25. Oktobers“, dem Tag der Oktoberrevolution von 1917, findet man all jene typisch „sowjetischen“ Erinnerungsstücke. Diese zwei bis vier Fahrstreifen breite Straße beginnt am imposanten Theater, sie passiert das „Dom Sowjet“ (dem Rathaus von Tiraspol), die nur zwei Banken an denen man internationale Kreditkarten verwenden kann, die Statue des Gründers des modernen Tiraspols, Alexander Suworow, und endet schließlich in der Nähe des Parlamentsgebäudes von Transnistrien.
Wandel in Transnistrien
Doch irgendwie merkte ich auch, dass es zugleich Veränderungen in der letzter Zeit gegeben haben musste. Pawel, der für die staatlichen Medien arbeitete und den ich zufällig in meinem Hotel traf, bestätigte mir diese Einschätzung. Zugleich zählte er mir auch ein paar Beispiele auf: Der Zug von Odessa nach Chişinău über transnistrisches Territorium fährt jetzt wieder regelmäßig, das moldauische Mobilfunknetz deckt zum ersten Mal ebenfalls das Gebiet östlich des Dnjestr ab und auch die Einflüsse von Politik wie von Unternehmen sowie Fälle von Korruption werden zunehmend und kritisch von der Öffentlichkeit beobachtet und sogar von den (staatlichen) Medien behandelt.
Als ich Pawel dann fragte, wie seiner Meinung nach die Zukunft aussehen könnte, vielleicht mit einer möglichen Wiedervereinigung oder als Föderation mit Moldawien, lehnte er diese Ideen sofort entschieden ab: „Wir sind eine unabhängige Nation!“ Doch auf mein Nachhaken hin, was denn die Besonderheit einer „transnistrischen Nation“ sei, konnte mit Pawel keine befriedigende Antwort geben. Wahrscheinlich auch, weil es keine endgültige Lösung zu geben scheint.
Das Leben in einem transnistrischen Dorf
Nach zwei Tagen verließ ich aber Tiraspol und reiste weiter. Denn über eine herzliche Einladung bei Couchsurfing bekam ich die Chance ein ganzes Wochenende im transnistrischen Dorf Speia zu verbringen, das direkt am Dnjestr liegt. Solch ein Angebot konnte ich natürlich nicht ausschlagen, vor allem bei sommerlichen Temperaturen jenseits der 40 Grad Celsius freute ich mich auf eine Abkühlung im Fluß.Das allgemeine Leben in Speia ist vermutlich nicht wirklich anders als in anderen Dörfern des postsowjetischen Raumes. Aber in der Gemeinde war deutlich sichtbar, dass die meisten Bewohner den Ort bereits verlassen hatten.
Die alte Infrastruktur, wie die Polizeistation, das kleine Stadion, die Sporthalle oder das Haus der Kulturen, war bereits seit Jahren verschlossen und ungenutzt. Von einst mehreren tausend leben nur nur wenige hundert Menschen dort. Die Jugend und die meisten Männer sitzen in einer von zwei örtlichen Bars, trinken und warten. Sie warten auf Arbeit, weil der wichtigste Arbeitgeber, die Apfelplantage, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufhörte zu existieren. Jetzt sind die endlosen Apfelbaumfelder verlassen und längst verwildert. Niemand nutzt mehr die Äpfel.
Ein Glas Pflaumenkonfitüre zum Abschied
Die einzigen Ausnahmen sind die älteren Frauen, die natürlich noch wissen wie man köstliche Marmeladen oder Kompotts aus Äpfeln sowie jeder anderen Frucht ihrer kultivierten Gärten herstellt. Ein großes Glas Pflaumenmus war dann auch das Präsent, dass ich am Ende des Wochenendes wie meiner kurzen Reise durch Transnistrien erhielt. Und dann, in dem Moment als ich Transnistrien verlassen wollte, schlug die Bürokratie zurück: Ich hatte vergessen mich bei der Polizei zu registrieren, was innerhalb der ersten 24 Stunden nach Ankunft in der abtrünnigen Region obligatorisch ist. Was folgte, war eine kurze Diskussion mit der Grenzkontrolle: Erst sollte ich ein Formular ausfüllen, welches meinen Aufenthalt quasi im Nachhinein legalisierte und eine Geldbuße zahlen. An und für sich wäre dies kein Problem gewesen, hätte ich nicht bereits meine Transnistrischen Rubel wieder zurück in Moldawische Lei getauscht.
Doch der Offizier zeigte sich äußerst flexibel und verkürzte den Prozess für mich – oder aufgrund des Sonntages – und ich musste plötzlich nur noch die „Strafe“ bezahlen, ohne Papierkram. Also legte ich die nun gewünschten 60 Moldawische Lei (ca. 4 Euro) auf den Tisch seines kleinen Wachhäuschens um meinen Reisepass wieder zurückzubekommen und um die Fahrt nach Moldawien schlagbaumfrei zu machen. Beim Überqueren der Grenze dachte ich mir nur, dass man das auch mal gemacht haben musste, also Schmiergeld zu bezahlen, und dass sich am Ende einige Dinge wirklich nie ändern.
Dieser Beitrag erschien in einer etwas veränderten Fassung und auf Englisch am 28. September 2012 auf „EastBook.eu“.