Gut zwei Stunden fährt die Elektritschka durch endlos grüne, meist flache Landschaft, die nur gelegentlich von kleinen Dörfern unterbrochen wird. So lange braucht der Zug, um von Chabarowsk den Endhaltepunkt Birobidschan zu erreichen – einem ruhigen 75.000-Einwohner-Ort etwa 175 Kilometer weiter westlich.
Der Name der Stadt, der von den dort zusammentreffenden Flüssen Bira und Bidschan herrührt, verdeutlicht noch nicht den besonderen Status, den das Gebiet innehat, dem Birobidschan als Hauptstadt vorsteht. Erst das riesige, strahlend weiße Eingangsschild, welches man einige Kilometer vor dem Stopp über ein Feld hinweg erspähen kann, macht die Bedeutung sichtbar: Dort ist der Ortsname sowohl auf kyrillisch als auch auf jiddisch angebracht. Damit ist es das letzte jiddisch-sprachige Ortsschild weltweit.
Bereits mit dem Überqueren der neuen, über 2,5 Kilometer langen Brücke über den Amur kurz hinter Chabarowsk erreicht man den Jüdischen Autonomen Oblast (JAO). Umgangssprachlich wird dieser auch mit seiner Hauptstadt Birobidschan gleichgesetzt. Direkt am linken Flussufer beginnt dieses russlandweit einzigartige Föderationssubjekt. Seine jüdische Geschichte, hier im Fernen Osten und an der unmittelbaren Grenze zu China, begann im Jahr 1927 als ein Projekt unter Stalins Ägide.
Zwar hatte es bereits im Russischen Kaiserreich jüdische landwirtschaftliche Siedlungen in der heutigen Ukraine gegeben. Doch erst mit dem Sieg der Bolschewiki und der Etablierung der Sowjetmacht wurden Ideen zur Ansiedlung von Juden in einem bestimmten Gebiet konkretisiert. So machte sich im Sommer 1927 eine erste Delegation in die Gegend von Birobidschan auf, um dort die Machbarkeit einer Besiedlung zu untersuchen. Bereits im März 1928 verabschiedete das Zentralkomitee der Sowjetunion eine Resolution, die das Gebiet für eine jüdische Besiedlung bereitstellte.
Die Entscheidung Birobidschan auszuwählen, wurde durch drei Faktoren bestimmt: Erstens sollte damit die Sicherheit der sowjetischen Außengrenze im Fernen Osten verstärkt werden. Zweitens sollte mit dem Birobidschan-Projekt die Meinung der Auslandsjuden (vor allem im Westen) für die Sowjetunion positiv beeinflusst werden. Und drittens erhoffte sich die Sowjetführung jüdische Finanzhilfen aus dem Ausland, unter anderem zur Erschließung von Bodenschätzen.
Darüber hinaus schien die Besiedlung aus Sicht jüdischer Nationalisten zumindest auch eine Teillösung beziehungsweise Alternative zur zionistischen Idee eines Groß-Israels zu sein. Nachdem Stalin das Projekt abgesegnet hatte, ging es Schlag auf Schlag: Im April 1928 begann die Kolonisierung, 1930 wurde der Rajon Birobidschan eingerichtet, welchem schließlich 1934 durch ein Dekret des Zentralexekutivkomitees der UdSSR der Statuts des „Jüdischen Autonomen Oblasts“ verliehen wurde. Seitdem ist der JAO der einzige Ort weltweit, in dem Jiddisch den Status einer offiziellen Sprache hat. Michail Kalinin, formelles Staatsoberhaupt der Sowjetunion, sprach damals vom „jüdischen nationalen Staat“ den die Arbeiter- und Bauernmacht seinen und den Juden aus aller Welt errichtet hätte.
Als sich die ersten Juden vor allem entlang der bereits vorhandenen Bahntrassen ansiedelten, waren in der Region praktisch noch keine Straßen vorhanden, auch das Land war für eine Bewirtschaftung eher ungeeignet. Hinzu kamen die klimatisch harte Bedingungen mit äußerst kalten Wintern und heißen Sommern, wo die Menschen zusätzlich von Mückenplagen und Zyklonen heimgesucht wurden.
Bis Mitte der 1930er Jahre wuchs die jüdische Gemeinde, jiddische Zeitungen und Zeitschriften wurden publiziert, ein jüdisches Staatstheater sowie eine Regionalbibliothek eingeweiht. Eine Zeit der großen Hoffnung für die Entwicklung von Birobidschan als ein Zentrum der jüdischen Siedlungstätigkeit und der jüdischen Kultur in der Sowjetunion begann, die über den mäßigen Zuspruch hinwegtäuschte. So ließen sich nicht viele jüdische Siedler trotz sowjetischer Propaganda und Beschönigung der Zustände in den Fernen Osten locken. 1934 lebten erst 8000 Juden (von geplanten 60.000) im JAO, davon aber immerhin über 1000 aus dem Ausland. Die schwierigen, vor allem klimatischen, Bedingungen führten dazu, dass über die Hälfte der angekommen Siedler den Landstrich schnell wieder verließen.
Zusätzlich verpassten die stalinistischen Säuberungswellen der Jahre 1936 bis 1938 auch der sich im aufkeimen befindlichen jüdischen Staatlichkeit und der regionalen Entwicklung im JAO einen schweren und dauerhaften Rückschlag. Die Maßnahmen betrafen insbesondere die ausländischen Siedler. Trotzdem ging man 1937 von bereits 19.000 jüdische Siedler im JAO aus, wobei diese Zahl in der Folgezeit stagnierte.
Der Zenit der Besiedlung wurde schließlich 1948 mit etwa 30.000 Juden erreicht, was rund ein Viertel der damaligen Gesamtbevölkerung des JAO entsprach. Insbesondere der antisemitische Verfolgungswahn Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Gründung des Staates Israel führten dann binnen weniger Jahre zu Halbierung der jüdischen Bevölkerung. Eine zweite Welle der Abwanderung, neben Israel vor allem nach Deutschland und die USA, erfolgte nach dem Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren.
Laut dem aktuellsten russischen Zensus aus dem Jahr 2010 sind von knapp 177.000 Einwohnern im JAO nur noch 1628 Juden – weniger als 1 Prozent der Bevölkerung. Davon sprachen noch 97 Jiddisch, 312 Hebräisch und weitere 54 eine nicht näher spezifizierte jüdische Sprache. Für die Russin Ekaterina Popowa, die in Birobidschan geboren wurde und aufwuchs, ist deshalb nur noch der Name des Gebietes jüdisch: „Im Alltag sind die Juden nicht mehr wahrnehmbar“, sagt die 24-Jährige.
Aleksej Wostrikow denkt ähnlich, auch er gehört der russischen Bevölkerungsmehrheit (92,7 Prozent) an, wuchs aber in einem kleinen Dort im Süden des JAO auf – nur der Amur trennt seinen Heimatort von China. Nach der Schule zog er in die Hauptstadt, um dort zu studieren. „Als zweite Fremdsprache wollte ich damals Chinesisch lernen.“ Doch das wurde ihm untersagt. Die Direktorin zwangsverpflichtete ihn für den Jiddisch-Kurs. „Denn die Uni-Leitung wusste genau, dass sich dafür keine Studenten finden würden, so dass sie zu dieser Maßnahme griffen“, erklärt Wostrikow. Daraufhin verließ er die Universität und ging vorerst in sein Heimatdorf zurück. „Was sollte ich mit Jiddisch?“, fragt er heute. Für ihn ist das eine tote Sprache, die mittlerweile kaum noch jemand spricht.
Ungeachtet dessen muss man nicht lange suchen, um das Jiddische oder jüdische Zeugnisse in Birobidschan zu finden: Etliche Straßenbeschilderungen sind zweisprachig ausgeführt, eine der Hauptstraßen, die örtliche Universität sowie die regionale Bibliothek wurden nach Scholem Alejchem, einem der bedeutendsten jiddisch-sprachigen Schriftsteller, benannt. Ihm wurde auch ein großes Denkmal in der Stadtmitte gewidmet. Zudem gibt es zwei Synagogen, eine neue 2004 eingeweihte im Zentrum sowie eine zweite („Bejt Tschuwa“, Haus der Buße) am Stadtrand, die in einem alten Holzhaus untergebracht ist. Darüber hinaus findet jedes Jahr Anfang September ein größeres jüdisches Festival statt. In der JAO zeugen auch heute noch viele Ortsbezeichnungen von den einstigen jüdischen Gründern, wie Birofeld, Waldheim oder Naifeld.
Eine zentrale Stellung für den Erhalt der eigenen Kultur, der Traditionen und der Sprache nimmt in Birobidschan das jüdische Kulturzentrum „Frejd“ ein. Mit Hilfe staatlicher Mittel und zusammen mit einer Partnerschule werden dort seit 2002 Kinder und Jugendliche Woche unterrichtet. Zudem gibt es im Zentrum Sprachkurse in Jiddisch und Hebräisch und eine kleine Volkshochschule. Zumindest noch 2012 sah Frejd-Leiter Roman Leder die Zukunft positiv. So war seit einigen Jahren die Zahl jüdischer Einwanderer größer als die der Auswanderer gewesen, denn noch in den 1990er-Jahren waren viele Menschen aus der Arbeitslosigkeit nach Israel geflohen.
Dieser Trend könnte sich nun im Zuge der aktuellen Krise in Russland wiederholen. So kannte Aleksej Wostrikow einen jüdischen Klempner, der vor einigen Jahren aus Israel nach Birobidschan zog. „Er kam mit viel Geld und wollte hier sein Business aufbauen“, erinnert sich der 25-Jährige. Doch der Israeli habe nun resigniert aufgegeben und sei nach Israel zurückgekehrt. Von Wostrikow habe er sich mit den Worten verabschiedet: „Das ist alles Mist, das hier ist kein jüdischer Ort mehr.“
Am 1. August 2013 starte die russische Regierung zusätzlich ein spezielles Programm, um Juden aber auch Nicht-Juden mit jeweils mehreren tausend Euro Unterstützung zum Umzug in den JAO zu bewegen und den negativen Entwicklungen zu entgegnen. Doch der Erfolg war äußerst bescheiden: Statt der erhofften 2200 neuen Bewohner kam nur ein einziger Jude.
Auch deshalb gibt es seit Jahren Pläne die JAO mit einer der benachbarten Regionen zusammenzulegen, wenn diese Überlegungen in Birobidschan selbstredend nicht auf viel Gegenliebe stoßen. „Doch ich glaube, dass man um diese Maßnahme auf lange Sicht nicht herumkommen wird“, sagt Wostrikow. Das wäre das Ende des jüdischen Sonderstatus und das offizielle Eingeständnis eines gescheiterten Projekts.
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