Der Zug spuckt die noch verschlafen wirkenden Fahrgäste aus. Auf dem Bahnhofsvorplatz zerstreut sich die Menge, auf viele warten Freunde oder Bekannte, auf mich wartet die Nacht. Noch ist es dunkel, doch glücklicherweise verhältnismäßig warm. Von einem Funkturm blinkt es Minus 1 Grad Celsius in den Morgen. Planmäßig kam der Nachtzug aus Krasnojarsk um 6.35 Uhr Ortszeit in Abakan an. Fast zwölf Stunden brauchte er für die Strecke zum am anderen Ende des Krasnojarsker Stausees, der fast 400 Kilometer lang ist. Denn die Bahn fährt nicht direkt am Wasser entlang sondern eine riesige Schleife. Deshalb die lange Fahrtzeit, die aber ruhig noch etwas länger hätte dauern dürfen.
Denn in der Hauptstadt der Republik Chakassien, benannt nach einem Turkvolk (die Titularnation stellt aber mittlerweile nur noch die Minderheit der Bewohner), ist an diesem Samstagmorgen noch nicht viel los. Jedoch hatte ich damit gerechnet. Deswegen führt der erste Weg auch direkt zum Busbahnhof, um in das nur 25 Kilometer entfernte Minusinsk zu kommen. Denn mein Reiseführer behauptet, dass der Ort heute zwar „weitestgehend unbekannt“ sei, dennoch aber eine Reise wert wäre und man gar einen Stop einplanen solle, wenn man der Gegend sei. Denn anders als Abakan war der heute etwa 70.000 Einwohner große Ort, an einem Seitenarm des Jenissei gelegen, früher der bedeutendste Ort der Region, wovon noch etliche architektonisch-schöne Gebäude im Zentrum der Stadt zeugen. Erst als Abakan zum neuen Verwaltungszentrum ernannt wurde, verlor Minusinsk seine Anziehungskraft und an Bedeutung.
Platz an der Lenin-Straße hinter der Erlöser-Kathedrale. Die beiden Gebäude im Hintergrund gehören zum Heimatkundemuseum von Minusinsk.
Zwischen beiden Städten pendeln etliche Marschrutkas, sodass man sich nicht nach einem Fahrplan richten muss, die gut halbstündige Fahrt kostet 45 Rubel. Es dämmert bereits leicht, als wir Abakan verlassen, drei weitere Fahrgäste lauschen dem Gedudel des Autoradios. Draußen liegt Schnee und es windet, drinnen schallt „Sunshine Reggae“ von Laid Back aus den Boxen – die Musik hätte nicht unpassender seien können, dennoch erhöht sich bei mir die Vorfreude und die Spannung, was mich in denn nun Minusinsk erwartet.
Als der Fahrer seine Passagiere aus dem Kleinbus wirft ist es glücklicherweise schon hell, Minusinsk scheint aber immer noch zu schlafen. Die „Sehenswürdigkeiten“ des Ortes, wie das Vilner-Haus (das ehemals prächtige Bankgebäude ist heute eine Ruine), das örtliche Theater und die Erlöserkirche, sind schnell abgelaufen. Doch der wahre Grund meines Kommens ist das Heimatkundemuseum. Dieses wurde bereits 1877 von einem örtlichen Apotheker mit einer kleinen Insekten- und Mineralsammlung ins Leben gerufen – und im Trescher-Reiseführer als „wohl mit Abstand beste Heimatkundemuseum Sibiriens“ beschrieben. Diese hohen Erwartungen galt es natürlich zu überprüfen, doch bis zur Öffnung um 10 Uhr waren noch mehr als zwei Stunden zu überbrücken. Problem: Die zwei im Reiseführer (5. Auflage von 2012) erwähnten Cafés existieren nicht mehr – bei einer Adresse stand noch nicht einmal mehr das besagte Gebäude. Wie sich schnell herausstellte, waren das auch die einzigen beiden Lokalitäten in der Stadt. Zwar öffneten nach und nach auch etliche Magasine und Ramschläden ihre Türen, doch zum längeren Verweilen luden die selbstredend weniger ein.
Ich nutzte also die Zeit, um die Stadt erneut aufs ausgiebigste zu erkunden, die Fahrtroute der Marschrutka zurück nach Abakan auszukundschaften und mein mitgebrachtes Essen zu verzehren. Punkt 10 Uhr stand ich dann auf der Matte des Heimatkundemuseum. Die im Museum arbeitenden Damen freuten sich sichtlich einen Gast aus dem Ausland in ihren heiligen Hallen begrüßen zu dürfen: Eine verkaufte mir die Tickets, eine zweite nahm meine Jacke entgegen, die dritte überreichte mit den Schlüssel für ein Schließfach, um darin meinen Rucksack verstauen zu können. Obendrein durfte ich einen Pin auf einer Weltkarte mit meinem Herkunftsort markieren.
Wie überall in Russland achtet in jedem Raum eine meist ältere Frau darauf, dass der Besucher sich anständig verhält. So werde ich beispielsweise dafür kritisiert, die ein oder andere Abteilung ungewöhnlich schnell durchlaufen zu haben. Da ich aber der zahlende Kunde der Einrichtung bin, sehe ich mich im Recht unspektakuläre Räume etwas flotter durchschreiten zu dürfen. Die Bandbreite des Minusinsker Heimatkundemuseums ist wie so oft allumfassend: von Flora und Faune der Region, über ethnographische Exponate bis hin zum Großen Vaterländischen Krieg – für jeden ist etwas dabei. Darüber hinaus wartet das Museum aber auch mit Räumen zu eher abwegigeren Themen, wie Schamanismus, chinesischer Kultur oder einer alten Bibliothek, auf. Etliche Beschriftungen sind sogar zweisprachig auf Russisch und Englisch, eine echte Rarität! Leider waren die Abteilungen, die mich am ehesten interessiert hätten – wie die eines Vergleichs zwischen zaristischen und stalinistischen Straflagern – wegen Umbauarbeiten geschlossen. Abschließend sei gesagt, dass sogar ich als Museums-Muffel den Besuch empfehlen kann, erst Recht bei dem Eintrittpreis von etwas mehr als einem Euro.
Die Abakaner Erlöser-Kathedrale inmitten eines Plattenbauviertels
Nachdem mit dem Museumsbesuch Minusinsk abgehakt ist, geht es gegen Mittag mit der Marschrutka wieder zurück nach Abakan. Das dortige erste Anlaufziel sollte eigentlich ein gutes Essen sein, der Reiseführer bot wieder mehrere Empfehlungen. Jedoch ging die Pechsträhne, was die Tipps anging, weiter: Beim ersten Restaurant konnte die angegebene Hausnummer nicht stimmen, die Straße endete bereits weit vorher. Die zweite Gaststätte war mittlerweile zu einem Schuhgeschäft geworden und die dritte Alternative augenscheinlich bereits seit längerem geschlossen. Somit verzichtete ich auf eine warme Speise und griff erneut auf Mitgebrachtes zurück.
Nach dem Abklappern der „Highlights“ Abakans und dem anschließenden stundenlangen eher planlosem Umherwandern durch die wenig aufregende Großstadt stieß ich auf eine „georgische“ Bäckerei, die ich natürlich ausprobieren musste. Die Auswahl war durchaus authentisch, mein Chatschapuri Imeruli durchaus passabel, nur der Käse war wohl eher aus russischer Produktion.
Bis zur Rückfahrt nach Krasnojarsk am Abend waren dann immer noch einige Stunden zu überbrücken. Da die Beine bereits anfingen schwer zu werden, entschloss ich mich, den späten Nachmittag eher entspannt in einer Stolowaja der gehobeneren Klasse ausklingen zu lassen: Borschtsch, ein Stück Schokotorte (für russische Verhältnisse sogar angenehm unterzuckert) sowie Tee. Die letzte Stunde harrte ich dann im großen Wartesaal des Bahnhofs aus, der um diese Zeit bis auf den letzten Platz gefüllt war. Denn die einzigen beiden Züge des Tages, der eine nach Moskau, der andere nach Krasnojarsk, fahren kurze Zeit hintereinander ab. Es ist wieder dunkel, als mich der selbe Zug, der mich gut 13 Stunden vorher nach Abakan brachte, wieder zurück nach Krasnojarsk befördert.
Minusinsk
Das sogenannte Vilner-Haus
Eingang zu einer Großkonditorei
Brücke über den zugefrorenen Seitenarm des Jenissei
Holzhaussiedlung am Rand des Zentrums
Das Eingangsgebäude des Heimatkundemuseums
Bushaltestelle mit Schwarzem Brett: Unter anderem mit dem Angebot für einen „Mann für eine Stunde“. Was sich schlüpfrig anhört, ist schlicht die gängige Umschreibung für die Dienste von tatkräftigen Handwerkern.
Die Minusinsker Erlöser-Kathedrale
Abakan
United Colors of Tristesse
Öffentliches „Telefon“ mit direkten Draht zur Polizei. Diese hieß bis zu ihrer Reform vor auf den Tag genau vier Jahren Miliz.
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